Es ist ein Aschenputtel-Traum, den Laura träumt: Eine Karriere in Schönheitswettbewerben erscheint dem Teenager und seiner Freundin aus einer Provinzstadt in Baja California im Norden Mexikos als eine der seltenen Chancen, um ihren armen, recht aussichtslosen Lebensverhältnissen zu entkommen. Laura, das wird in den wenigen Alltagsmomenten des Filmbeginns klar, hat sich schon in jungem Alter eine gewisse Härte angewöhnt; sie macht sich wenig Illusionen und weiß, dass die Szene der Casting- und Schönheits-Shows nicht nur mit Entbehrungen im Training, sondern auch mit Ausbeutung verschiedenster Art und mancher Erniedrigung einhergeht. Auf das, was ihr aber tatsächlich passiert, ist auch sie nicht vorbereitet. Sie wird für ihren Traum bitter bezahlen müssen.
Beim Besuch einer Tanzveranstaltung geraten Laura und ihre Freundin zufällig in eine blutige Schießerei zwischen Polizei und Drogenmafia. So gerade noch kommt Laura mit dem Leben davon, doch sie hat zu viel gesehen, wird bedroht, und bald zwingen sie ein lokaler Drogenboss, später dann auch die Polizei in die Rolle der Komplizin und eines Lockvogels für die jeweilige andere Seite. Laura gerät in eine Zwickmühle, ihr Ende scheint vorgezeichnet: Eine wie sie kann aus solcher Lage nicht herauskommen. So erlebt Laura (von Stephanie Sigman in ihrem Schauspieldebüt eindrucksvoll gespielt) eine körperliche wie psychische Achterbahnfahrt, einen Höllentrip, der sie tief in die Abgründe der mexikanischen Gesellschaft hineinführt.
Der Blick auf diese Gesellschaft ist ehrlich in seiner Ungerührtheit: Der Film schaut nicht weg, wo es um Korruption und moralische Abgründe der Behörden geht, er verklärt nicht das Mafia-Leben, macht allerdings schon klar, warum vielen Menschen vor allem in den nördlichen Provinzen gar keine Wahl bleibt, als für die Drogenkartelle zu arbeiten, oder zumindest mit ihnen zu kooperieren. Zugleich fängt Regisseur Gerardo Naranjo viel vom alltäglichen Lebensgefühl der Mexikaner ein, zeigt auch fröhliche Momente und Glück.
Stets aber dominieren ein grundsätzlicher anthropologischer Pessimismus und ein existenzieller Ernst: Diese Welt ist schmutzig und böse, und die Menschen haben über den Moment hinaus wenig zu hoffen. Das verbindet „Miss Bala“ mit der Film-Noir-Tradition eines gesellschaftskritischen Genrekinos, die im mexikanischen Kino seit jeher lebendig ist. Der Film ist allerdings fast gänzlich frei von Zitaten und offenkundiger Selbstreflexion – als ob derlei dem Regisseur zu verspielt erschien. Fraglos zieht er die reale Welt der des Kinos vor und benutzt den Nebenhandlungsstrang der Casting-Shows und Schönheitswettbewerbe (Laura kommt hier im Lauf des Films sehr weit), um die Künstlichkeit und den Scheincharakter medialer Oberflächen gegen das Geschehen hinter den Kulissen und „das wahre Leben“ auszuspielen. Unter der Hand erzählt der souverän inszenierte, harte Thriller beiläufig also eine Menge darüber, was auf den Straßen und in den Köpfen Mexikos los ist. Mexiko erscheint als ein Land, in dem Anarchie, Korruption und Verbrechen das Gesetz längst überwunden haben.
Der Regisseur, der aus großbürgerlichen Verhältnissen stammt und in seinen bisherigen zwei Spielfilmen „Drama/Mex“ (2006) sowie dem furiosen Godard-Verschnitt „Voy a explotar“ (2008) sehr authentisch, ohne falsche Anbiederung und jenseits der bekannten Gesten des Naturalismus und sozial engagierten Kinos von den armen Leuten erzählt, musste für diesen Film und seine Ehrlichkeit bitter bezahlen: Der ungeschminkte Einblick führte zu unmissverständlichen Drohungen von Seiten der Drogenkartelle; Naranjo hält sich seit über einem Jahr in Europa auf. Nichtsdestotrotz ist er, das belegt „Miss Bala“, die führende Stimme der jüngeren Generation des derzeit boomenden mexikanischen Kinos, das qualitativ zu den besten Lateinamerikas gehört. Nachdem vor gut zehn Jahren das Dreigestirn der heute um die 50-jährigen Afonso Cuaron, Alejandro González Iñárritu und Carlos Reygadas zusammen mit dem schon immer nach außen orientierten Guillermo del Toro, den Kameramännern Rodrigo Prieto und Emmanuel Lubetzki, sowie dem Drehbuchautor Guillermo Arriaga das Weltkino prägten, bringen nun mehrere gut 30-jährige Regisseure neue Erfahrungen und konkretere, mehr „mexikanische“ Geschichten auf die Leinwand. Baranjo erzählt in hochintensiven, mitunter minutenlangen Steadicam-Fahrten, die in ihrer permanenten Bewegung und Atemlosigkeit gelegentlich an Inszenierungen des Hollywood-Meisters Michael Mann erinnern. Wie bei Mann halten sich Warmherzigkeit, stilistische Eleganz, Pathos und distanzierte Ironie die Waage. Ironisch muss man auch den Titel verstehen: „Bala“ bedeutet auf Spanisch nicht etwa Ball oder Tanz, sondern Gewehrkugel.