Ken Loachs Filme sind in gewisser Weise unberechenbar: Als Zuschauer muss man immer damit rechnen, urplötzlich einen kräftigen Schlag in die Magengrube zu erhalten. Das Werk des mittlerweile 76-jährigen Regisseurs wird auch nicht gerade wegen seines Humors gerühmt, obwohl der in seinen dunkel umwölkten Sozialdramen sich dennoch ab und an Bahn bricht. Etwas Erleichterung wird möglich, wenn sich für die von Paul Laverty ersonnenen Figuren aus dem Arbeiter- und Arbeitslosenmilieu die Tür zu einer sonnigeren Zukunft zu öffnen schien – die dann meist umso schmerzlicher wieder zugeschlagen wird. Loach erzählt von den Verlierern eines ungerechten Systems, das von Geld und einer gesellschaftliche Hierarchie bestimmt wird, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat. Seine Filme sind nicht nur stramm links, sondern meist auch ziemlich nihilistisch: Unten geboren, bleiben die Menschen unten – sie sind zu alt für den Arbeitsmarkt, zu abhängig vom Alkohol oder von ihren gewalttätigen Partnern, um sich selbst aus der Misere zu befreien.
Auch in der Figur des jungen Robbie, dem Protagonisten von „Angels’ Share“, scheinen jene sozialen Missstände auf, die Loachs Filme generell charakterisieren. Robbie gehört zu den jungen Erwachsenen, die noch wie Kinder anmuten, die rauben und zuschlagen, das friedliche Miteinander also empfindlich stören. Alkohol und Drogen sind ihr Metier; abgewrackte Wohngegenden und Narben im Gesicht Gründe, warum sie aus dem Sumpf, der sie immer tiefer hinunterzieht, nicht mehr herauskommen. Es ist eine kleine Truppe vernachlässigter Jugendlicher, die von der Kamera bei der Urteilsverkündigung vor Gericht genau unter die Lupe genommen wird, ehe sie unter der Aufsicht des engagierten Streetworkers Harry ihre Sozialstunden ableisten: mit Malerarbeiten, Müllsammeln, aber auch beim Besuch auf einem „Whiskyhof“ in den Highlands. Robbie ist dabei eigentlich der am deutlichsten Abgeschriebene – von allen und für alle: Seine Eltern verbrachten den Großteil seiner Kindheit im Knast, er selbst schlug einst, von Koks umnebelt, in rasender Wut einen jungen Mann halb blind. Jetzt ist er erneut wegen gefährlicher Körperverletzung zu 300 Stunden Sozialarbeit verdonnert worden – und das auch nur, weil seine Freundin Leonie schwanger ist. Kurz: Robbies Vergangenheit ist ebenso belastet wie seine Zukunft in einem Glasgow, wo ihm jederzeit die Bande seines Erzfeindes Clancy auflauern könnte. „Mein Vater schlug Clancys Vater, nun schlagen wir uns“, sagt Robbie einmal zu Leonie. „Und unser Sohn wird dann Clancys Sohn schlagen?“, fragt sie zurück. Leonie will die gewalttätige Situation nicht länger ertragen. Ihre eigene Familie versucht unterdessen, Robbie aus der Stadt zu treiben und endgültig von Leonie fern zu halten. Robbie stünde ganz allein da, gäbe es nicht Harry, der ihn in die aromahafte Welt der Whisky-Verkostung einführt. Der schmächtige Looser mausert sich unverhofft vom Glasgower Schläger zum Grenouille des Malt Whiskys – allerdings mit derselben diebischen Attitüde, die ihm bislang das Überleben sicherte. Statt sich mit seinem Talent in eine Bürgerlichkeit einzureihen, die ihn ohnehin nie akzeptierten würde, nutzt er seine Gabe auf seine Weise – wie Patrick Süskinds Dufträuber Grenouille (in „Das Parfum“).
„Angel’s Share“ heißen in Fachkreisen jene zwei Prozent Alkohol, die sich jedes Jahr still und heimlich aus den Holzfässern verflüchtigen, in denen die wertvollsten Whiskys der Welt gelagert werden. Ein Anteil für den Engel. Dieser Film ist hingegen ein humoristisches Geschenk, das Loach seinen Zuschauern direkt im Anschluss an seine versöhnliche Komödie „Looking for Eric“
(fd 39 559) macht. Denn Robbies Talent führt ihn ausgerechnet während der Versteigerung des teuersten Whiskys der Welt an eine Weggabelung, wo er zwischen rechts und links, legal oder illegal wählen muss. Welcher Weg der moralisch richtige ist, bleibt der Interpretation des Publikums vorbehalten. Die Beurteilung des Happy Ends dagegen nicht. Der beglückenden Katharsis einer späten Gerechtigkeit kann man sich kaum entziehen. „The Angels’ Share“ – das ist nicht nur ein versetzter Apostroph, sondern ein Akt umverteilender Gerechtigkeit, den Ken Loach seinen gefallenen Engeln hier endlich einmal zugesteht – wenn es das Schicksal schon nicht so will.