Spanien 1953. Die Bevölkerung leidet unter der Diktatur Francos, vor allem die Bauern leben in großer Armut, sogar Leibeigenschaft gibt es noch. Diese Erfahrung muss auch der kleine Marcos machen, der von seinem Vater an den Großgrundbesitzer Don Honesto verkauft wird. Der Grund: Hungrige Wölfe haben fünf Ziegen gerissen, Marcos Vater muss für den Verlust aufkommen. Don Honesto schickt den Jungen ins „Tal der Stille“, ein abgelegenes Gebiet in der Sierra Morena, wo er dem Ziegenhirten Atanasio bei der Arbeit helfen soll. Nach und nach freundet sich der schweigsame, ungesellige alte Mann mit Marcos an und bringt ihm alles bei, was man fürs Überleben in der Wildnis wissen muss, auch wie man sich Wölfen nähert. Aber plötzlich ist Atanasio tot, und Marcos ist ganz auf sich allein gestellt. Verzweifelt kämpft er gegen Hunger und Einsamkeit, gegen Kälte und Schnee. Atanasios Frettchen hilft ihm bei der Hasenjagd, die Wölfe, die instinktiv um Marcos Not wissen, legen ihm gelegentlich ein Stück erbeutetes Fleisch hin – im Austausch gegen gefangene Hasen. Zwölf Jahre lang lebt Marcos so in der Wildnis. Mit langen, struppigen Haaren, dichtem Bart und einem umgehängten Fell sieht er – mittlerweile zum jungen Mann geworden – selbst aus wie ein wildes Tier. Doch dann versteckt sich ein Partisan in den Bergen, dem die Guardia Zivil auf den Fersen ist. Marcos Tage im „Tal der Stille“ sind vorbei.
Eine wahre Geschichte, und so ist am Schluss des Films der reale, inzwischen 65-jährige Marcos Rodriguez Pantoja zu sehen, der wehmütig auf „sein“ Tal zurückblickt und gesteht, dass die zwölf Jahre dort die glücklichsten seines Lebens gewesen seien. Später, unter Menschen, habe er sich nie mehr so wohl gefühlt, und darum ist „Wolfsbrüder“ auch die angedeutete Geschichte eines ungelebten Lebens. Zunächst beginnt der Film als grausames Porträt einer westlichen, diktatorisch geführten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, in der Menschen, Kinder zumal, wie eine Ware den Besitzer wechseln und dann einfach vergessen werden. Dass niemand Marcos vermisst und nach ihm gesucht hat, ist eine desillusionierende Erkenntnis (zumal der Abspann darauf verweist, dass 137 ähnliche Fälle von Verwilderung spanischer Kinder bekannt wurden), ebenso die Ruppigkeit und Einsilbigkeit, mit der die Menschen miteinander umgehen. Die Natur erscheint so als Gegenentwurf, in dem ein besseres Leben im Einklang mit den Tieren möglich ist. Das wirft Fragen nach alternativen Lebensentwürfen und Zivilisationsflucht auf, und so zieht der Film eine Linie zu den natürlich-einfachen Lebensformen, die bereits Henry David Thoreau (1817-1862), der radikale Nonkonformist, propagierte und die schon einen Film wie Sean Penns „Into the Wild“
(fd 38 560) beeinflussten. Olivares ist denn auch geneigt, die Natur zu idealisieren; gemeinsam mit dem Kameramann und Naturfilmer Joaquín Gutierrez Acha fängt er die Schönheit der Landschaft Andalusiens in atemberaubenden Bildern ein, die den Zuschauer immer auch überwältigen sollen. Doch es ist auch eine unbarmherzige, karge Landschaft, deren Gesetze Marcos erst noch lernen muss. Die Wölfe hingegen, von Olivares und Acha 14 Monate lang dokumentarisch beobachteten, werden nie romantisiert oder vermenschlicht. Sie bleiben instinktgesteuerte Wesen, die pragmatisch handeln und vom Menschen profitieren. Mit den beängstigend großen Monstern aus „The Grey – Unter Wölfen“
(fd 41 004), die ihr Territorium mit allen Mitteln gegen Eindringlinge verteidigen, haben sie nichts gemein.