Drama | Schweiz/Frankreich 2012 | 97 Minuten

Regie: Ursula Meier

Ein zwölfjähriger Junge sichert für sich und eine junge Frau, die sich als seine Schwester ausgibt, aber seine Mutter ist, den Unterhalt, indem er in einem Schweizer Skigebiet in den Bergen teure Ski-Accessoires der Touristen stiehlt und diese im Tal weiterverkauft. Mit dem Geld will er sich die Liebe seiner Mutter erkaufen, die sich ihm aber immer wieder verweigert. In einer metaphorisch die Innenwelt und die Konflikte der Figuren spiegelnden Landschaft entfaltet das karge, vorzüglich gespielte Drama dank der durchdachten Bildsprache und Musikgestaltung eine bewegende Mutter-Sohn-Geschichte. Zwar bleibt die soziale Symbolik etwas plakativ, dennoch entfaltet der Film eine große Intensität. (Titel Schweiz: "Sister - L'enfant d'en haut") - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ENFANT D' EN HAUT
Produktionsland
Schweiz/Frankreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Archipel 35/Vega Film
Regie
Ursula Meier
Buch
Antoine Jaccoud · Ursula Meier
Kamera
Agnès Godard
Musik
John Parish
Schnitt
Nelly Quettier
Darsteller
Léa Seydoux (Louise) · Kacey Mottet Klein (Simon) · Martin Compston (Mike) · Gillian Anderson (Kristin Jansen) · Jean-François Stévenin (Chefkoch)
Länge
97 Minuten
Kinostart
08.11.2012
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Simon und Louise sind Meister der Täuschung, und sie wissen durch ihr falsches Spiel zu gefallen. Simon verbringt seine Tage auf einer Ski-Alm; hoch oben mimt der Zwölfjährige einen gut betuchten Knaben, der sich unbeschwert dem Skivergnügen hingeben kann. Einer englischen Urlauberin macht er weis, er sei Julien, Sohn reicher Hotelbesitzer. Die Kamera inszeniert ihn vortrefflich in selbstgefälliger, mondäner Pose. Simon sonnt sich in einem mit Pelz umsäumten Sessel, versteckt hinter dunklen Brillengläsern. Doch hinter seinem weltmännischen Gehabe verbirgt sich in Wahrheit ein kleiner Dieb: Ungerührt raubt er die Urlauber aus und verhökert deren Sachen im Tal. Mit dem Geld und gestohlenem Proviant sichert er den Unterhalt von sich und Louise. Louise, die keine Lust zu arbeiten hat, verlässt sich lieber auf andere. Sie gibt Simon, der ihr Sohn ist, als ihren Bruder aus und meint, sich auf diese Weise nicht mehr um ihr Kind kümmern zu müssen. Da sie von Simons unsauberen Geschäften profitiert, lässt sie ihn gewähren. Als vorgeblich kinderlose junge Frau fällt es ihr leichter, Männerbekanntschaften zu machen, die ihr, nicht zuletzt unter monetären Gesichtspunkten, hochwillkommen sind. Wenn einer ihrer Liebhaber mit dem Auto vorfährt, wird der vermeintliche kleine Bruder abrupt stehen gelassen. Der hofft, sich mit seinem Geld Louises Zuwendung erkaufen zu können, denn wer das Geld hat, hat auch die Macht. Das glaubt Simon. Doch er täuscht sich. Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier macht das spannungsgeladene Auf und Ab dieser frustrierenden Mutter-Sohn-Beziehung höchst anschaulich, indem sie die Handlung in einer symbolischen Landschaft ansiedelt, in der sich die Figuren immer wieder auf dem Weg vom Tal auf die Alm hinauf und von der Alm ins Tal hinab begegnen. Oben hüllt das klare Weiß des Schnees die Berge ein. Die betuchten Skifahrer genießen den malerischen Anblick und die gute Luft. Sie bewohnen geschmackvoll eingerichtete Chalets, die von Menschen wie Simon und Louise geputzt werden. In dieser Welt sorgen Mütter wie die englische Skifahrerin für ihre Kinder und gehen vorbehaltlos auf Simon zu. Im Tal dagegen regieren Verfall und Stumpfheit. Hier liegen nur noch schmutzige Reste alten Schnees. Über eine fahle Ackerwüste zieht Simon sein Diebesgut auf einem roten Plastikschlitten hinter sich her; man erblickt baufällige, unwirtliche Häuser wie das Hochhaus, in dem die beiden leben. Der Film stilisiert das Nicht-Zueinander-Kommen der Figuren mit nüchternem Blick; nicht selten verdichtet er es in strengen, geometrisch wohlkomponierten Bildern. Durch die sparsam dosierten, kurzen musikalischen Motive wird die Kargheit der Gefühle, welche die Landschaft widerspiegelt, effektvoll akzentuiert. Meisterlich korrespondiert damit der spiegelbildlich gegliederte Aufbau der Geschichte; dem Fall des Jungen folgt der Aufstieg der Mutter. Wenn Simon ein kläglicher Abgang von der Alm widerfährt – er wird mit einem Mülltransport ins Tal befördert, nachdem er bei einem seiner Diebstähle erwischt wurde –, rappelt sich Louise langsam wieder hoch und ist willens, für sich und ihren Sohn zu sorgen. Doch beide verfehlen sich erneut; Louise verhindert, dass sie sich gegenseitig bereichern. In einer anderen Szene wiederholt sich die harsche Zurückweisung durch die Mutter in einem der Chalets, in dem Louise und Simon beim Putzen auf die englische Skiurlauberin stoßen. Diese muss schmerzlich erkennen, dass der charmante Junge nicht nur hochgestapelt, sondern sie auch noch bestohlen hat. Als er leugnet, durchsucht Louise seine Taschen und findet die wertvolle Uhr, was den Tiefpunkt ihrer lieblosen Beziehung herbeiführt. Auf einem trostlosen Acker verhaken sie sich in einem brutalen Zweikampf, bei dem sich die Mutter endgültig vom Sohn lossagt. „Winterdieb“ ist ein facettenreichen Film, der das ausdrucksstarke Bild einer zerstörten Kindheit zeichnet. Gleichwohl vermag die Regisseurin mit ihrer doch etwas plakativen sozialen Symbolik von „oben“ und „unten“ nicht an die Originalität und Faszination ihres Debütfilms „Home“ (fd 39 142) anzuschließen, in dem sie seelische Vorgänge in eine virtuose, spannungsreiche Geschichte übersetzte. Indem sie in „Winterdieb“ die soziale Symbolik mit der Existenz der Hauptfigur verwebt, erscheint zumindest die modische Idee eines sich in der Marktwirtschaft kompetent bewegenden Kindes als illusorisch. Denn der Zuschauer sieht, dass der junge „Unternehmer“ ein sich selbst überlassenes, zutiefst verletztes Kind ist, das den „Macker“ lediglich markiert. Mit seinen Habseligkeiten zieht es als moderner Nomade durchs Leben und sucht – vergebens – nach verlässlichen Bindungen.
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