Ein Rentner aus Bukarest, der das Vertrauen seiner Familie verspielt hat, scheint sein Schicksal wenden zu können, als ihm Mitte der 1990er-Jahre eine Ehrenmedaille für angebliche Verdienste im Zweiten Weltkrieg verliehen werden soll. Mit liebevollem Blick auf die Figuren sowie lakonisch-kauzigem Humor beschreibt das Drama die Nachwirkungen einer kafkaesken Vergangenheit, die noch nicht in der westlich-kapitalistischen Gegenwart angekommen ist. Mit subtiler, mitunter dokumentarisch anmutender Beobachtungsgabe spiegelt der Film die Tragik der Historie im Schicksal eines Einzelnen. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Ehrenmedaille
- | Rumänien/Deutschland 2009 | 101 Minuten
Regie: Calin Peter Netzer
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Filmdaten
- Originaltitel
- MEDALIA DE ONOARE
- Produktionsland
- Rumänien/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- HI Film/Pandora/Scharf Advertising
- Regie
- Calin Peter Netzer
- Buch
- Tudor Voican
- Kamera
- Liviu Marghidan
- Musik
- Philip Glass
- Schnitt
- Catalin Cristutiu
- Darsteller
- Camelia Zorlescu (Nina) · Florina Fernandes (Cornels Frau) · Mimi Branescu (Cornel) · Radu Beligan (Ion J. Ion) · Victor Rebengiuc (Ion)
- Länge
- 101 Minuten
- Kinostart
- 03.05.2012
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Zwischen dem Rentner Ion und seiner Frau Nina herrscht Eiseskälte. Seit Jahren schon schweigt sie ihn an, und auch Corneliu, sein nach Kanada emigrierter Sohn, weigert sich, mit ihm zu telefonieren. Eiskalt ist es auch in der beengten Wohnung in Bukarest. Die Heizung ist defekt, ein neuer Rotor müsste her, doch die täglichen Beschwerdeanrufe bleiben erfolglos; Zuständigkeiten werden weitergegeben und verlaufen im Sand.
In Peter Calin Netzers Film ist die überholungsbedürfte Heizungsanlage nicht nur ein treffendes Bild für die familiären Zerwürfnisse, sondern auch für die systemischen Bruchstellen und Absurditäten. Sechs Jahre nach dem Sturz von Ceaucescu ist das alte System zwar abgeschafft, doch seine verkrusteten Strukturen bestehen fort. Seltsam führungslos und anonym erscheint der Behördenapparat, mit dem es Ion zu tun bekommt, als ein Schreiben der Regierung ihm die Verleihung einer Ehrenmedaille offenbart. An besondere Verdienste im Zweiten Weltkrieg kann er sich nicht erinnern, doch weder die Organisation der Kriegsveteranen noch das Verteidigungsministerium können ihm Auskünfte erteilen, und so geraten die wiederholten Amtsgänge zum kafkaesken Running Gag. Mit viel Wunschfantasie füllt Ion die Informationslücke schließlich selbst auf, indem er eine Episode aus seiner Kriegsvergangenheit retrospektiv zur Heldengeschichte umschreibt. Die Ehrenmedaille, dieses lächerliche vergoldete Ding, das selbst beim Pfandleiher nur genervtes Augenrollen auslöst, wird für Ion zum Rettungsanker; ein Rehabilitationssymbol, das die Fehler seiner Vergangenheit ausradieren und ihm den verlorenen Respekt zurückgeben soll. Tatsächlich bewirkt die Auszeichnung zunächst Wunder. Der Rotor wird ausgetauscht, im Wohnblock gilt er als Held, und seine Frau beginnt wieder mit ihm zu sprechen.
Mit lakonischem Humor beschreibt „Ehrenmedaille“ die Anerkennungskämpfe eines Mannes, der den Systemwechsel vor allem als eine noch immer andauernde Identitätskrise erfahren hat. Auch der Staat, so wie ihn Netzer zeigt, ist noch nicht richtig im Post-Sozialismus angekommen. Es ist die Mitte der 1990er-Jahre, der kalte Wind des Kapitalismus, der in anderen Filmen der neuen rumänischen Welle deutlich zu spüren ist, scheint hier noch abwesend; im Radio laufen alte rumänische Schlager, die Rente wird noch in Bargeld an der Wohnungstür ausgezahlt, ein Aushang im Haus verkündet freundlich: „Hallo Nachbar, bezahle Deine Instandsetzungskosten.“ Weniger die Auswirkungen der hereinbrechenden westlichen Moderne sind das Thema, als vielmehr das Nachwirken der Vergangenheit. Als Ion den rechtmäßigen Inhaber der Ehrenmedaille zu einer Verzichtserklärung zu überreden versucht, nimmt dieser kurz entschlossen seine Armprothese ab und reicht sie ihm wütend zum Unterschreiben hin. Auch hinter Ninas Kommunikationsverweigerung steht eine schmerzhafte Geschichte aus der politischen Vergangenheit: Vor Jahren hat Ion die Fluchtpläne seines Sohns an die Securitate verraten. Trotz der politischen Traumata ist der Tonfall nie bitter – und ebenso wenig neutral. So weicht die teilnahmslos beobachtende Erzählperspektive, die das postkommunistische Kino Rumäniens überwiegend auszeichnet, dem liebevollen Blick auf die Figuren und ihre Schrullen. Auch formal beschreitet Netzer konventionellere Wege als Cristi Puiu oder Corneliu Porumboiu, zu deren charakteristischer Handschrift etwa der „Long Take“ gehört. Netzers Identifikationsangebot ist unmissverständlich, der Humor weniger beißend als kauzig. Dass sein vermittelnder Ansatz an den Zuschauer gerichtet ist, aber nicht unbedingt die Figuren selbst erreicht, wird ebenso deutlich. Am Ende lässt Netzer die Erwartungen an eine Versöhnungsszene ins Leere laufen. Sohn Corneliu ist mit seiner Familie zu Besuch, alle sitzen beim Essen, es wird durcheinander geredet und gelacht. Inmitten der lebhaften Gesellschaft sitzt verloren Ion mit seiner Ehrenmedaille und hat den Anschluss gleich mehrfach verpasst.
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