Abendland (2011)

Dokumentarfilm | Österreich 2011 | 90 Minuten

Regie: Nikolaus Geyrhalter

Dokumentarisches Essay über die Frage, was aus der Kultur- und Wertegemeinschaft "Europa" geworden ist. Das Ergebnis ist ernüchternd: Nach außen schottet sich das Schengen-Land hermetisch nach, im Inneren dominieren entpersönlichte Prozesse, pure Zweckrationalität und eine leere Vergnügungs- und Zerstreuungssucht. Der irritierende, filmästhetisch radikale Film unterstreicht durch seine formale Gestaltung zwar das Anonym-Verwaltete, knüpft aber durch eine Fülle klug strukturierter Detailbeobachtungen an grundlegende Diskurse an. Ein provozierendes, widerständiges Patchwork aktueller Gegenwartssplitter, das seine Qualität gerade auch im Widerspruch erweist. (O.m.engl.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ABENDLAND
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Nikolaus Geyrhalter Filmprod.
Regie
Nikolaus Geyrhalter
Buch
Wolfgang Widerhofer · Nikolaus Geyrhalter · Maria Arlamovsky
Kamera
Nikolaus Geyrhalter
Schnitt
Wolfgang Widerhofer
Länge
90 Minuten
Kinostart
22.12.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Der Titel: ein Kampfbegriff. Der Film: eine Provokation. Während sich die einen hinter dem Terminus wie in einer Burg verschanzen und die anderen mit dem Wort am liebsten auch seine Historie schleifen möchten, balanciert der österreichische Dokumentarist Nikolaus Geyrhalter in seinem jüngsten Werk auf einem schmalen Grat zwischen Konfrontation und Aufklärung. Es geht um „Europa“ im emphatischen Sinne, gespiegelt und hinterfragt in den Zerrbildern seelenloser Automatismen, die alle substanziellen Ideen von der Person bis zur Menschenwürde verdrängt zu haben scheinen. Auf den ersten Blick nimmt der Film mit auf eine nächtliche Reise quer durch das Schengen-Land, das an seinen streng bewachten Grenzen dem Ansturm der Habenichtse Herr zu werden versucht. Klar kadrierte „Geyrhalter“-Bilder konfrontieren mit der Realität hochtechnisierter Abschottung: Wärmebild-Kameras im slowakisch-ukrainischen Grenzgebiet, die in die Finsternis starren, gleißend hell erleuchtete Sperranlagen in der spanischen Enklave Melilla, Sicherheitstrakte für Abschiebehäftlinge auf dem Flughafen in Wien, die lückenlose Videoüberwachung des öffentlichen Raums in London. Lauter Tatbestände, die im Detail nicht unbekannt und übers Internet mühelos recherchierbar sind, durch die kommentarlos-schweigende Präsentation auf der Leinwand aber ins Bedrückend-Monströse wachsen. Bis zum „Neusprech“, mit dem in einem Schweizer Container-Gebirge einem Mann aus Nigeria die Ablehnung seines Asylantrags schöngeredet wird, ist es nur ein kleiner Schritt, der die fließenden Übergänge zwischen rechtsstaatlichen Verfahren und ihrer instrumentellen Pervertierung offenbart. Dazu zählen in gewisser Weise auch die „Rituale“ der Anti-Castor-Proteste im Wendland, mit denen sich Umweltschützer und Polizei auf ein theatrales Schattenboxen verständigt haben: Die einen ketten sich an den Zugleisen fest, die anderen rücken in Mannschaftsstärke und mit höflichen Floskeln vor, um den Weg frei zu machen. Zwischen diese Sequenzen einer europäischen „splendid isolation“, die den Reichtum des Westens zur Not auch am Hindukusch verteidigt, sind freilich auch ganz andere Wirklichkeitssplitter montiert, die von der schleichenden Aushöhlung im Innersten des Kontinents erzählen. Das meint in erster Linie gar nicht den expliziten Inhalt der pointierten Aufnahmen aus dem Amüsier- und Zerstreuungssektor, die alkoholisierten Exzesse auf der Münchner Oktoberfest oder einen gigantischen Rave mit 30.000 Jugendlichen im Olimax in Arnheim; diese Szenen stechen zwar durch ihren Sound sowie auch filmsprachlich heraus, weil Geyrhalter beide Male souverän mit der Kamera durch die Menschenmengen pflügt; weit mehr als die drogeninduzierten Ekstasen irritiert hier die Verknüpfung von Masse und Serialität, der nahezu maschinelle Takt, mit dem Bier gezapft, Hähnchen gegrillt oder die Gliedmaßen im Stroboskop-Gewitter durcheinander gewirbelt werden. Vollends beklemmend wird dies bei Beobachtungen in einem Altenheim oder im Krematorium: Die ökonomische Rationalität der wortlosen Abläufe und Handreichungen verdichtet sich hier zur kalten Matrix bloßen Funktionierens, in der die letzten Reste des Humanen pietätvoll entsorgt sind. Der gewagte assoziative Zusammenhang, mit dem Geyrhalter und sein kongenialer Cutter Wolfgang Widerhofer rund 20 disparate Splitter der zeitgenössischen Wirklichkeit Europas ästhetisch und inhaltlich miteinander verknüpfen, reizt jedoch auch zum Widerspruch. Mehr noch als in „Unser täglich Brot“ (fd 37 987) drängen sich Fragen nach den Verzerrungen auf, die mit Geyrhalters beeindruckender dokumentarischer „Signatur“ verbunden sind. Die Vorliebe fürs Weitwinkelobjektiv und die zentralperspektivisch-symmetrische Komposition der Bilder unterstreicht das Verwaltet-Anonyme, Entpersönlichte, wie es etwa in den Aufnahmen aus einer Frühgeburtstation mit Händen zu greifen ist; der technisch-industrielle Apparat, mit der alienhafte Frühchen am Leben erhalten werden, schiebt sich allein schon wegen der filmästhetischen Grundentscheidungen in den Vordergrund; die gesuchte Ästhetik und ihre inszenatorische Intention grenzen dabei mitunter ans Spektakuläre, dem zwar alles Boulevardeske abgeht, bedienen sich in der Zurichtung des Gegenstands aber ähnlicher Mittel. Auf der anderen Seite transportiert dieser distanzierte, konzeptuelle Blick eine enorme Fülle an dokumentarischem Mehrwert. Das gilt für jede der ausgeklügelten Einstellungen, mit der beispielsweise die abendliche Papst-Audienz auf dem Petersplatz zur streitbaren Analyse der katholischen Kirche gerinnt, die sich nicht in drei Schlagworten erschöpft, und schwingt sich in der kühnen Montage zu einer Fülle relevanter Diskurse auf, die nicht an der Tagespolitik interessiert sind, sondern grundsätzlicher ansetzen. In den Filmen von Geyrhalter & Wildenhofer wird man nicht nur zahlloser Widersprüche unserer Zeit gewärtig, sondern gerät an fundamentalere Grenzen; so etwa an die Frage nach der Drift hinter all den hart errungenen zivilisatorischen Prozessen. Unterm Strich ist der Film in Vielem eine Zumutung, aber gerade deshalb widerständig und sehenswert.
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