Ein junger Häftling nimmt als Freigänger einen Job in einem Bestattungsunternehmen an. Zunächst stößt er auf Ablehnung, findet allmählich aber einen Weg zurück ins Leben. Beeindruckendes Regiedebüt des Schauspielers Karl Markovics, dem mit einem hervorragenden Laiendarsteller und einer Konzentration auf wenige Schauplätze das dichte und bewegende Porträt eines sozialen Außenseiters und seines Umfelds gelingt. Das wortkarge, dokumentarisch anmutende Sozialdrama beleuchtet unverstellt und lebensklug die Auseinandersetzung mit Schuld, Tod und Einsamkeit, findet aber auch zu hoffnungsvollen Akzenten.
- Sehenswert ab 14.
Atmen
Drama | Österreich 2011 | 93 Minuten
Regie: Karl Markovics
1 Kommentar
Filmdaten
- Originaltitel
- ATMEN
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Epo-Film
- Regie
- Karl Markovics
- Buch
- Karl Markovics
- Kamera
- Martin Gschlacht
- Musik
- Herbert Tucmandl
- Schnitt
- Alarich Lenz
- Darsteller
- Thomas Schubert (Roman Kogler) · Karin Lischka (Margit Kogler) · Gerhard Liebmann (Walter Fakler) · Georg Friedrich (Rudolf Kienast) · Stefan Matousch (Gerhard Schorn)
- Länge
- 93 Minuten
- Kinostart
- 08.12.2011
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Wenn Schauspieler ins Regiefach wechseln, ist das nicht immer ein Gewinn. Im Fall von Karl Markovics und seines brillanten Erstlings „Atmen“ darf man getrost von einem Wunder sprechen, das auch gleich mit einer Uraufführung in Cannes und einer Nominierung als österreichischer Kandidat für den Auslands-„Oscar“ belohnt wurde. Wobei die Wahl eines klein budgetierten, dokumentarisch angehauchten Sozialdramas, das sich hauptsächlich im Gefängnis und einem Bestattungsunternehmen abspielt, wieder einmal beweist, was das österreichische dem deutschen Kino voraus hat: den unwiderstehlichen Mut zur Eigensinnigkeit. Dabei könnte die Geschichte selbst nicht schlichter ausfallen: Ein 19-jähriger Freigänger auf Identitätssuche, der mit 14 im Jugendheim seinen Zimmergenossen erschlug, nutzt angesichts der in Aussicht gestellten Entlassung den Job bei der zentralen Wiener Bestattung, um seine Tat zu verarbeiten und über die Konfrontation mit der Mutter, die ihn als Säugling wegen Überforderung abgegeben hatte, wieder einen Weg zurück ins Leben zu versuchen.
Markovics zeigt nüchtern die täglichen Leibesvisitationen, denen sich der Häftling bei seiner abendlichen Rückkehr in die Jugendstrafanstalt unterziehen muss. Beim reinigenden Ritual des Schwimmtrainings erlaubt er sich unter Wasser Momente von Schönheit und Freiheit, die beim Auftauchen wie Seifenblasen zerplatzen, wenn eine Gruppe von Schwimmanfängern ungeduldig darauf wartet, dass der fast gleichaltrige Kriminelle endlich das Becken verlässt. Auch unter seinen Arbeitskollegen stößt Roman zunächst auf Ablehnung. Vor allem die von Georg Friedrich gewohnt markant verkörperte Figur reagiert auf den niedergedrückten Neuling mit Vorurteilen und boshaften Sticheleien, entpuppt sich nach gemeinsam durchlittenen Begegnungen mit dem Tod aber als mitfühlender Mentor. Nur der Bewährungshelfer kümmert sich trotz aller rebellischen Entgleisungen unerschrocken um seinen Schützling und sorgt damit für manche erheiternde Szene, die den klug gewählten und wie beiläufig absolvierten Arbeitsvorgängen in der von Routine und schwarzem Humor geprägten Bestattungsbranche ihren Schrecken nehmen. Roman fängt mit dem Säubern von Särgen an, muss dann schnell beim Umpacken der Körper mithelfen und gerät unvorbereitet in die traumatische Situation, erst auf das Hinscheiden eines im Sterben liegenden Unfallopfers warten zu müssen, angestarrt von Passanten, die sich den vorzeitig bestellten Sargträgern empört entgegen stellen. Mal gilt es, eine alte Rentnerin, die in ihrer Wohnung allein starb und vergeblich auf den letzten Besuch ihrer Kinder gehofft hatte, zu waschen und anzuziehen; mal sind es gleich mehrere ihrer Individualität beraubte Leichen, die in einem Krankenhaus in weißen Säcken auf ihren Transport warten.
Der wortkarge, an Originalschauplätzen gedrehte Film meistert diese Szenen mit bewundernswerter Sachlichkeit. Banale Alltagsgespräche der Bestatter schieben sich dazwischen und rücken das innere Drama, das sich auf dem Gesicht des großartigen Laiendarstellers Thomas Schubert abspielt, in den Vordergrund. Ruhige Kamerafahrten über kilometerlange Friedhöfe, untermalt mit einer melancholisch stimmenden Musik, wechseln sich ab mit der künstlichen Familienidylle bei IKEA, wohin Roman heimlich seiner jungen Mutter folgt. Beim Kauf einer Matratze gerät die Annäherung schnell an ihre Grenzen. Fernsehtaugliche Konventionen sind nicht Markovics’ Sache. Hier und da lässt er zwar einen Anflug von britisch anmutender Tristesse zu, wechselt dann aber schnell wieder den Ton zu einer Mischung aus typisch österreichischer Kaltschnäuzigkeit und herzerwärmendem Existenzialismus. Roman ist am Ende seiner sonderbaren Probezeit wie ausgetauscht, befreit von seiner Atemlosigkeit und beschenkt mit der Körperhaltung eines Überlebenden. Unverstellt und lebensklug wie das ganze makellose Debüt. Bitte mehr davon.