Die aggressiven Avancen eines Schülers bringen einen Sportlehrer durcheinander und gefährden sein emotionales Gleichgewicht wie auch seine berufliche Position. In Form eines Psychothrillers zehrt der Film von der Verunsicherung: Was von den Erlebnissen filmische Realität ist und was sich im Kopf des Protagonisten abspielt, bleibt unklar. Mehr als auf äußere Handlung kommt es der Inszenierung mit ihrer ins Subjektive spielenden Bildsprache und einer Tonebene, die virtuos Musik und Geräusche verbindet, auf ein dichtes Stimmungsbild sowie die existenzialistische Bestandsaufnahme eines festgefahrenen Lebens an.
- Sehenswert ab 16.
Ausente
Psychothriller | Argentinien 2011 | 87 Minuten
Regie: Marco Berger
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Filmdaten
- Originaltitel
- AUSENTE
- Produktionsland
- Argentinien
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Oh My Gomez! Films
- Regie
- Marco Berger
- Buch
- Marco Berger
- Kamera
- Tomás Pérez Silva
- Musik
- Pedro Irusta
- Schnitt
- Marco Berger
- Darsteller
- Carlos Echevarría (Sebastian) · Javier De Pietro (Martin) · Antonella Costa (Mariana) · Rocío Pavón (Ana) · Alejandro Barbero (Juan Pablo)
- Länge
- 87 Minuten
- Kinostart
- 12.01.2012
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Psychothriller
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Ein Fuß, eine Hand, Brustbehaarung, eine Hand mit abgekauten Nägeln, Finger, die zwischen den Zehen kratzen. Am Anfang sind Details eines jungen männlichen Körpers zu sehen, dann hört man Trillerpfeifen, den Hall über dem Wasser, das Geschrei der Schüler, die Kommandos der Lehrer: Schwimmunterricht im Hallenbad zwischen kaltem Neonlicht und blauen Fließen. Ein ambivalenter Ort zwischen Nacktheit und sportlicher Reinheit. Fast glaubt man, Chlor und kalten Schweiß zu riechen. Sebastián ist Lehrer, Martin Schüler. Martin schwimmt nicht mehr, er hat etwas im Auge, Sebastián fährt ihn zum Arzt. In Martins Auge wird zwar nichts gefunden, aber sie kommen zu spät zurück: Martins Klassenkamerad ist nicht mehr da, seine Oma ist nicht zu Hause. Sebastián lässt den Schüler in seinem Wohnzimmer übernachten, seine Verlobte wird an diesem Abend nicht kommen.
„Ausente“ spielt mit den Erwartungen des Zuschauers, löst Emotionen aus, lässt sie dann aber ins Leere oder in eine ganz andere Richtung laufen. Der zweite Film des 34-jährigen argentinischen Regisseurs Marco Berger ist kein Drama einer homosexuellen Schüler-Lehrer Beziehung, sondern provoziert unterkühlt Erwartungen: ein Thriller der erotischen Ambivalenz und Bedrohung, aber auch eine Bestandsaufnahme existenzieller Entfremdung, die Beschreibung eines durch tägliche Routine unwirklich und kalt gewordenen Alltags.
Von Martin erfährt man wenig, außer dass er mit List und Lügen penetrant in Sebastiáns Leben eindringt. Bei dem Lehrer spürt man eine träge Resignation dem Leben gegenüber: Er hat sich mit seiner Verlobten und einer erstarrten Beziehung arrangiert, mit der geschwätzigen Routine seiner Kollegen und dem immer wiederkehrenden Tagesablauf, so mechanisch wie die Anwesenheitsliste vor Unterrichtsbeginn, die dem Film den Titel gab: „presente“ – „anwesend“, „ausente“ – „abwesend“. Martin ist fast immer abwesend, am Ende steht er nicht mehr auf der Liste.
Die Annäherungen des Schülers stürzen den Sportlehrer in eine seltsame Verwirrung, sie bringen ihn durcheinander, stören seine gewohnten Bahnen, bedrohen seine berufliche Position. Der Film erzählt vom Stalking eines Schülers, der um die angreifbare Position seines Lehrers weiß, aber auch dessen innere Leere spürt. Dabei ist Martin, das wird schon zu Beginn deutlich, Voyeur und Exhibitionist zugleich, er überschreitet mit unschuldigem Gesicht Grenzen und besetzt mit kleinen, scheinbar harmlosen Gesten Terrain in Sebastiáns Leben. Die große Stärke des Films liegt in der Ambivalenz der Erzählung, einer Doppelbödigkeit, die einen guten Thriller ausmacht. Was ist noch Realität, und was ist der Film, der im Kopf des Protagonisten abläuft? Besonders, wenn Sebastián nach Martins Verschwinden in Rückblenden Fragmente der Geschichte erinnert. Ist es wahr, dass Martin dem Lehrer mit hämischem Lachen antwortet und dieser ihm daraufhin ins Gesicht schlägt? Interessiert die Geschichte, oder die Nicht-Geschichte, überhaupt jemanden außer Sebastián? „Ich habe Probleme mit einem Schüler“, erzählt er seiner Verlobten, aber die möchte lieber von sich selbst erzählen: „Oh ja, das kann ich gut verstehen, ich habe auch Probleme auf der Arbeit, stell dir vor, was passiert ist“, ertränkt sie den ratlosen Sportlehrer unter ihrem Wortschwall.
Von Anfang an arbeitet der Film mit einer streckenweise fast subjektiv suchenden Bildebene, insbesondere mit Blicken, die treffen, aber öfters noch ins Leere gehen, ergänzt durch eine Tonebene, die Musik und Geräusche virtuos miteinander verbindet. Marco Berger hat an der „Universidad de Cine“ in Buenos Aires studiert, an der viele Regisseure des „nuevo cine argentino“ ihren Abschluss machten – eine Bewegung, der die Atmosphäre wichtiger ist als der „Plot“ der Geschichte. „Ausente“ arbeitet zwar mit den Elementen des Thrillers, nutzt sie jedoch nicht für eine konventionelle Filmerzählung, sondern in erster Linie für ein dichtes Stimmungsbild und die existenzialistische Bestandsaufnahme eines festgefahrenen Lebens.
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