Gradaus daneben

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 100 Minuten

Regie: Walter Steffen

Dokumentarisches Fresko über neun sehr unterschiedliche Menschen aus Oberbayern, deren nonkonformistische Lebenswege sich durch Eigensinn und einen gewissen Hang zum Querdenken auszeichnen. Der Film verdichtet sich zum sympathischen Plädoyer für die Vielheit. Obwohl alle Protagonisten über ihre Kindheit erzählen und ansatzweise ihre Biografie rekonstruieren, zeichnen die Interviews keine Porträts, sondern genügen sich als Begegnung im ursprünglichen Wortsinn. Szenen eines Kasperltheaters sorgen bisweilen für satirische Kommentare. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Konzept + Dialog Medienproduktion Walter Steffen
Regie
Walter Steffen
Buch
Walter Steffen
Kamera
Christoph Ißmayer
Musik
Bernd Petruck
Schnitt
Martin Wunschick
Länge
100 Minuten
Kinostart
17.11.2011
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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TMDB

Diskussion
Am Ruf des FC Bayern München konnte man lange Zeit das generelle Verhältnis der Deutschen zum Süden des Landes ablesen; der Fußball-Club bot neben der CSU und ihren Protagonisten häufig einen prominenten Anlass, sich über die unheilige Allianz aus (frommer) Uniformität und wirtschaftlichem Erfolg zu ereifern. Doch inzwischen bangt nicht nur die CSU um ihren Status als Volkspartei; auch die Fußballer scheinen einen Weg gefunden zu haben, spielerische Individualität und viele Tore miteinander zu kombinieren. Ein dezidierter Film über bayrische „(Lebens-)Künstler und Querdenker“ rennt deshalb nicht mehr unbedingt gegen Betonwände an; selbst in der CSU wirkt ein Hardliner wie Peter Gauweiler inzwischen wie ein Exot. Sympathisch ist das filmische Fresko trotzdem, das neun ungewöhnliche Menschen „aus dem Oberland“ porträtiert. Diese folgen auf sehr unterschiedliche Weise ihren individuellen Neigungen: So begegnet man einer Klavierbauerin, die es den vorzeitlichen Fischern des Starnbergers Sees nachmacht und nach langem Kampf mit den Behörden Einbaumboote vermietet; einem „Das-Unsichtbare-Sichtbar-Macher“, der filigrane, nur von der Thermik oder dem Luftdruck bewegte Gerätschaften baut; einem Naturheilkundler und Wünschelrutengänger, der Milchkühe mit dem Pendel kuriert. Ferner dem ehemaligen Vorzeige-Popper von Starnberg, der inzwischen als Jongleur und Feuerspucker Kinder unterhält; einer Malerin, die das Einhorn als Symbol für sich erkoren hat und im Würmtal den Kultstätten der Kelten nachspürt, insbesondere den Gräbern der Priesterinnen, deren „Kraftfelder“ sie fühlt. Zwei Protagonisten ragen aus diesem Potpourri des Eigensinns in gewisser Weise heraus, weil ihre Persönlichkeiten „runder“ erscheinen bzw. ihre Stichworte dem Film eine inhaltliche Drift geben. Da ist zum einen Walter Ramadan, beleibter Poet und Liedermacher, der als unermüdlicher Tausendsassa das Kulturleben der Region befruchtet. Ein Mann wie ein Baum, den eine harsche Kindheit nicht zerbrochen, sondern zum augenzwinkernden Philosophen gemacht hat. Mit schelmischer Freude deklamiert er frühe Reflexionen über das Wort „Nichts“. Ramadan erinnert an die linke, anarchistische Tradition in Bayern, an eine knorrige Individualität, die bis in die dialektale Sprache hinein so gar nicht zur katholisch überformten Botmäßigkeit passen will, als deren Inkarnation Bayern jahrzehntelang erschienen war. Die zweite Figur ist Petra Riffel, eine gebürtige Österreicherin, die es schon als Kind auf die Bühne zog, wo sie schließlich auch landete, in Gestalt eines tragikomischen Clowns, der sich von der biblischen Figur der Maria Magdalena den Namen lieh: eine in sich ruhende und doch sich verströmende, von innen leuchtende Frau, die im Duo als „Klinikclown“ an Krankenbetten Angst und Trübsal verscheucht. Riffels stiller Freundlichkeit, in den ausholenden Gesten ihrer Figur grotesk konterkariert, strahlt eine Widerständigkeit aus, die Leid und Trauer mit Humor begegnet und gegen die Erstarrung des Todes das Lachen als heilende Kraft mobilisiert. Obwohl alle Protagonisten über ihre Kindheit erzählen und ihre Biografie so zumindest stichwortartig anklingt, besteht „Gradaus daneben“ primär aus lauter Momentaufnahmen, die keine Porträts zeichnen wollen. Es sind Begegnungen im besten Wortsinn, (monologische) Gespräche in freundlicher Atmo-sphäre an angenehmen Orten in einem wohlwollenden Licht, die in der Summe für die Vielheit plädieren, ohne dass sich daraus irgendwelche Imperative ableiten ließen; Respekt vor der Signatur des jeweiligen Lebenslaufs ist die angemessenere Reaktion. Strukturiert werden die einzelnen Interviews und Ausschnitte von Auftritten der Handpuppe Larifari, die auf der Bühne von „Dr. Döblingers geschmackvollem Kasperltheater“ ihrem Glück in Gestalt einer Wurstsemmel nacheilt, wobei das übliche Personal von der Großmutter bis zum Polizisten diesem Unterfangen ständig im Wege steht. Der Kasperl lässt sich davon nicht beirren, sondern schwingt sich zum satirischen Kommentator des Welttheaters auf, der als weiser Narr die Vergeblichkeit aller Mühen akzeptiert, ohne unglücklich zu sein. Wohl dem, über den Gleiches behauptet werden kann.
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