Filme, die psychische Behinderungen einem breiten Publikum nahe zu bringen versuchen, haben eine lange Tradition: Barry Levinsons „Rain Man“
(fd 27 420) und James L. Brooks „Besser geht’s nicht“
(fd 32 980) sind da nur zwei besonders populäre Beispiele unter vielen. Das „Tourette“-Syndrom, das Menschen dazu verleitet, unvermittelt Grimassen zu schneiden oder gesellschaftlich tabuisierte Wörter auszustoßen, stand ebenfalls schon im Mittelpunkt, etwa in „Tic Code“
(fd 34 277), „Vincent will Meer“
(fd 39 825) oder dem Dokumentarfilm „Kopfleuchten“
(fd 33 638). In „Ein Tick anders“ leidet die 17-jährige Eva unter jenem „Schluckauf im Gehirn“, der in den unpassendsten Momenten „böse“ Wörter über ihre Lippen kommen lässt. Die Schule hat sie geschmissen, um nicht ständig zum Gespött ihrer Klassenkameraden zu werden. Ihr Lebensmittelpunkt im beschaulichen Marl ist ihre nicht weniger skurrile Familie: Der Vater ist ein gutmütiger Tolpatsch und erfolgloser Autoverkäufer, die Mutter dem Kaufrausch verfallen; sie backt gerne Kuchen für die Tourette-Selbsthilfe-Gruppe. Onkel Bernie träumt immer noch von einer Karriere als Gitarrist, schlägt sich ansonsten aber mit seinen Kumpel als Kleinkrimineller durchs Leben. Oma bastelt gerne Sprengsätze, mit denen sie dann den Staubsauger in die Luft jagt. Doch dann wird Evas Vater entlassen, was die Mutter nicht erfahren soll. Eva heckt mit ihrem Onkel einen Banküberfall aus, um die Familie vor dem Ruin zu retten.
Wie „Vincent will Meer“ erliegt auch „Ein Tick anders“ der Versuchung, das Tourette-Syndrom ausschließlich über obszöne Wörter zu definieren. Wenn Eva sich am Waldsee um Lurche kümmert, beschimpft sie eine Familie als „Kinderficker“. Die Bankangestellten werden mit „Heil Hitler“ begrüßt und als Nutten tituliert, alle anderen sind „Arschfotzen“. Als sie ihr Onkel bei einer Talentshow anmeldet, muss sie natürlich ein Lied mit dem Titel „Arschlicht“ vortragen. Dass man ihren „Tick“ auch anders hätte interpretieren können, zeigt eine kleine Rückblende ins 19. Jahrhundert, als der französische Arzt Gilles de la Tourette bei einer Patientin, die ständig das Wort „Schwein“ im Munde führte, der Krankheit auf die Spur kam. Hier trifft der Film für einen Moment jenen spielerischen Ton, bei dem er sich in der „realen“ Handlung ständig vergreift. Gleiches gilt für die unentschlossene Dramaturgie, die die liebevoll-skurrile Zeichnung der Familie plötzlich verlässt, einen Krimi-Plot um eine mysteriöse Leiche im Wald bemüht und in ein albernes Märchen um einen korrupten Bankdirektor abschweift. Statt solcher Schlenker in traditioneller Kinderfilm-Manier à la „Kalle Blomquist“ hätte es dem Film im Sinne des jugendlichen Zielpublikums gut getan, wenn die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Eva und dem Nachbarsjungen ausgebaut worden wäre. Dass „Ein Tick anders“ nicht komplett enttäuscht, liegt vor allem am erfrischenden Spiel der Schauspielschülerin Jasna Fritzi Bauer und ihrer Film-Familie, deren Protagonisten mit sicherer Hand geführt werden. Auch auf der optischen Ebene vermag „Ein Tick anders“ durchaus zu überzeugen, weil die Bilder der Geschichte immer wieder jene Poesie verleihen, die ihr das Drehbuch bisweilen vorenthält.