Neben Peters Weirs „The Way Back“ (Kritik in fd 13/11) liefert „Essential Killing“ von Jerzy Skolimowski einen weiteren aktuellen Beitrag zum Subgenre des politischen Fluchtdramas. Erzählt wird die Geschichte des Taliban-Kämpfers Mohammed, der in Afghanistan von US-Einheiten gefangen genommen und gefoltert, mit einem Militärtransport in ein anonymes osteuropäisches Land gebracht wird, dort fliehen kann und eine Schneise der Zerstörung hinter sich lässt. Trotz partieller Erfolge und der Hilfeleistung durch eine Frau endet seine Flucht in einer Sackgasse. Eine echte Chance hatte er wohl nie.
Was „Essential Killing“ gegenüber „The Way Back“ qualifiziert, ist vor allem die Ambivalenz seiner moralischen und politischen Wertung. Während sich Weir an überholten Feindbildern des Kalten Kriegs abarbeitet, bleibt Skolimowskis Perspektive verblüffend offen – USA-freundlich fällt sie jedenfalls nicht aus. Er beschreibt die Kette von Gewaltakten phänomenologisch, als Teil eines ebenso unheilvollen wie eigendynamischen Prozesses, dessen auslösendes Moment längst in Vergessenheit geraten scheint. Mohammed irrt zu Beginn in einem labyrinthischen Höhlensystem umher; er sucht keineswegs die Auseinandersetzung mit dem militärischen Gegner, hat aber, konfrontiert mit den ihrerseits nach seinem Leben trachtenden GIs, gar keine andere Wahl, als den Abzug seiner Waffe zu betätigen. Seine nachfolgende Gefangennahme, die erkennungsdienstliche Behandlung, die Rasur der Haare und die Uniformierung mit einem leuchtend orangefarbenen Overall, ja selbst Vernehmung und Folter durch US-Soldaten erfolgen auffällig leidenschaftslos und routiniert. Wie ein Gegenstand erfasst und kategorisiert, überreißt er nicht wirklich, was man von ihm will. Da er ohnehin keine Möglichkeit hat, das ihm aufgezwungene System zu verstehen, bleibt er passiv und erduldet die Torturen fast apathisch. Seine Flucht verläuft dann auch nicht nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan, sondern rein zufällig: Der Kleintransporter, der ihn und andere Leidensgenossen in ein Lager bringen soll, kommt von der Fahrbahn ab und verliert seine „Ladung“. Erst als sich Mohammed mitten in tiefer Nacht in einem verschneiten Wald wiederfindet, erwachen seine Überlebensinstinkte. Gefesselt an Händen und Füßen, beginnt er durch den kniehohen Schnee zu laufen. Bis zum Ende seiner Flucht, das mit dem Ende seines Lebens zusammen fällt, folgt der Flüchtling blind seinen Instinkten, die sich der Unbilden der Natur ebenso erwehren müssen wie den Nachstellungen seiner Verfolger. Diese archaischen Instinkte lassen ihn Haken schlagen, Spuren verwischen, Rinde und Ameisen essen. Und sie lassen ihn immer wieder töten.
Skolimowski findet einige großartige, weil nachhaltig verstörende Szenen und Bilder. Der als extrem kompliziert geltende Vincent Gallo spielt die Hauptrolle des flüchtigen Taliban durchweg präzise und mit teilweise fast beängstigender Empathie. Er spricht im gesamten Film kein einziges Wort. Seinen Rollennamen Mohammed muss man dem Abspann entnehmen, ebenso wie den des einzigen Menschen, der ihm bei seiner Flucht behilflich ist. Die besten Passagen des Films gemahnen daran, dass man es mit einem der ungewöhnlichsten europäischen Filmemacher der späten 1960er-Jahre zu tun hat. Bevor er mit „Le Depart“ (1967) und „Deep End“ (1970) im Westen von sich Reden machte, schrieb der „einst aufregendste Avantgardist des polnischen Kinos“ Drehbücher für Roman Polanski („Messer ins Wasser“) und Andrzej Wajda („Die unschuldigen Zauberer“). Daneben arbeitete er als Schauspieler und betätigte sich als Bildender Künstler. Sein aktueller Film weist allerdings auch weniger starke Momente auf. Die als Kontrast zu den dunklen osteuropäischen Wäldern eingeschnittenen, in gleißendes Licht getauchten Traumsequenzen wirken banal. Einige szenische Lösungen machen einen klischierten, sogar fehlerhaften Eindruck, scheinen nur der Reizstimulierung zu dienen. So wechselt die Garderobe mehrfach sprunghaft; die Bevölkerung des anonym bleibenden slawischen Landes scheint sich vorwiegend im alkoholischen Delirium zu bewegen. Dennoch: „Essential Killing“ ist ein spannendes Stück Kino.