Eine Spezialeinheit der Pariser Polizei bekommt es täglich mit Kindesmissbrauch und Sexualdelikten zu tun. Die Konfrontation mit Gewalt und Verrohung, aber auch die Hilflosigkeit, wenn Täter nicht überführt werden können, belasten die Ermittler bis in ihr Privatleben hinein. Der spannende Kriminalfilm liefert eine Fülle aussagekräftiger Porträts von Figuren, die auf diese Herausforderungen sehr unterschiedlich reagieren, und verdichtet sich zur sperrigen Bestandsaufnahme eines Berufsstandes, aber auch der Schattenseiten der Metropole Paris.
- Ab 16.
Poliezei
Polizeifilm | Frankreich 2011 | 127 Minuten
Regie: Maïwenn
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Filmdaten
- Originaltitel
- POLISSE
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Les Productions du Trésor/Arte France Cinéma/Mars Films/Chaocorp
- Regie
- Maïwenn
- Buch
- Emmanuelle Bercot · Maïwenn
- Kamera
- Pierre Aïm
- Musik
- Stephen Warbeck
- Schnitt
- Laure Gardette · Yann Dedet
- Darsteller
- Karin Viard (Nadine) · Joey Starr (Fred) · Marina Foïs (Iris) · Nicolas Duvauchelle (Mathieu) · Maïwenn (Melissa)
- Länge
- 127 Minuten
- Kinostart
- 27.10.2011
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Polizeifilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Dieser Job mag vieles bereithalten: Aufregung, ein Gefühl von Nützlichkeit, vielleicht auch Macht; nur das von Dankbarkeit hält er den Beamten oft vor. Man gehört zu der wahrscheinlich meistgehassten Berufsgruppe, reibt sich und sein Privatleben auf, manchmal unter Lebensgefahr. Von 2002 bis 2008 liefen in den USA fünf Staffeln einer Cop-Serie, mit der es an Komplexität und Realitätsanspruch bis dahin kaum ein fiktives Fernsehprodukt aufnehmen konnte. „The Wire“, konzipiert vom ehemaligen Polizeireporter David Simon, handelte von einer Spezialeinheit der Polizei in Baltimore, ihren Kämpfen mit brutalen Drogendealern und korrupten Vorgesetzten. Die gebrochenen Helden waren „real police“, Polizisten, für die das Recht vor dem politischen Kalkül kam. Der Erfolg war bei den Kritikern durchschlagend, beim Publikum durchwachsen, je nach der Bereitschaft, sich auf die miteinander verknüpften Episoden einzulassen. Mit „The Wire“ wälzte Simon das US-Serienschaffen grundlegend um. Seitdem gilt es als ausgemacht, dass sich immer mehr Filme ästhetisch an Serien wie „Mad Men“ orientieren, obwohl sie der ausufernden Serienwelt narrativ nicht das Wasser reichen können.
Sieht man sich „Poliezei“ von der französischen Schauspielerin und Regisseurin Maïwenn (Le Besco) an, tauchen unweigerlich die Bilder und Figuren des Polizeidezernats von David Simons Baltimore vor einem auf. So ein buntes Kaleidoskop von Problemen und Einzelschicksalen wird hier eröffnet, dass man sich des Gefühls nicht erwehren kann, das alles müsse in einem großen Bilder-Schmelztiegel enden. Doch Maïwenn hält sich nicht lange mit großen Expositionen auf. Opfer, Täter, Ermittler: Alle kommen in diesem quasi-dokumentarischen Film über eine auf Kindesmissbrauch spezialisierte Pariser Polizeiabteilung zu Bild und zu Wort. Geschickt springt die Inszenierung von einem Strang zum anderen, taucht kurz in ein Verhör ein, bebildert die Trennung rumänischer Straßenkinder von ihren Eltern und dringt daraufhin ungnädig in das vermeintlich traute Familienleben der Upper Class ein. Kindesmissbrauch betrifft alle Schichten, das wird hier klar, nur wie schnell man sich aus einer Anklage mittels Anwalt wieder herauskaufen kann, das variiert je nach Einkommensklasse. Mit solcher Unmittelbarkeit wird hier die Fehlkommunikation zwischen einer nicht mehr greifbaren Jugend- und einer verständnislosen Erwachsenenwelt inszeniert, dass einem „Die Klasse“ (fd 39 090) von Laurent Cantet in den Sinn kommt. Teilt man Maïwenns Insider-Blick auf eine Metropole des Missbrauchs, so erscheint einem diese wie das Negativ zu Woody Allens stilisierter Stadt der Liebe in „Midnight in Paris“ (fd 40 602).
Mit Figuren, die nicht in mehreren (Serien-)Folgen, sondern durch wenige Blicke der Handkamera etabliert werden, wühlt der Film tief in den Seelen – vor allem in denen der Ermittler, die mehr zu Gesicht bekommen, als sie ertragen können. Für manchen wird das Baden der eigenen Kinder abends zum verkrampften Balanceakt. Was „Poliezei“ inszeniert, ist der druckgeladene Wahnsinn eines Arbeitsalltags, der sich auch ins Privatleben fortsetzt. Magersucht, Kinderwünsche, zerbrochene Beziehungen und am Ende ein Selbstmord, das sind die Resultate der schrecklichen Bilder missbrauchter Säuglinge und der nicht weniger schrecklichen Aussagen arroganter Täter, von Onkeln, Opas und Vätern, die sich ihrer Schuld so wenig bewusst sind wie der Traumata, die sie den Kindern für ihr restliches Leben aufbürden. Wenn in einer Welt der Pornos die Schwelle junger Sexualität derart abstrus absinkt, wird auch das Verhalten der Fahnder unpassender, als es der Ernst der Sache erfordert: Da wird ein junges Mädchen prustend ausgelacht, weil es sein geraubtes Handy mit einem Blowjob zurückgewinnen wollte; ein anderes Mädchen wirft den Ermittlern „mit 14, da wird gefickt und gelutscht – ganz normal“ vor die Füße. Hier zeigt sich die erschreckende Negierung der eigenen sexuellen Integrität durch eine Gruppe Jugendlicher, die – von den Eltern verlassen und von den sexualisierten Medien übernommen – ihr ganz eigenes Süppchen der Körperflüssigkeiten kocht.
In Cannes erhielt Maïwenn 2011 für „Poliezei“ den „Preis der Jury“. Belohnt wurde dafür ein verdichtetes Drehbuch voller realistischer Sätze und der Mut, den angeschnittenen Geschichten keine Abschlüsse zu schenken. Die Fantasie lässt das Kopfkino unweigerlich fortlaufen; sie malt aus, wie es wohl weitergeht – oder auch nicht, wenn ein Fall wieder einmal in der Sackgasse zweier Aussagen stecken bleibt. Das macht das Spielfilm-Pendant von „The Wire“ mit seinen fragmentarischen Einbrüchen in eine gar nicht heile Welt der Kindheit nicht zum rundesten Film, aber zum eindrücklichen Porträt über eine Branche der Ohnmacht, die selbst nichts Rundes an sich hat. Hier wird so aussagekräftig, wie es der Filmtitel vorgibt, eine „Berufung“ geschildert, die den Beamten befiehlt, überall da zu sein, wo es brennt, und die doch immer nur eindämmen, aber nie löschen können.
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