Als sich Bryan Singer von den „X-Men“ verabschiedete, ging es mit dem Franchise bergab: Teil 3 („X-Men – Der letzte Widerstand“, fd 37 622) war ein sinnfreies Effekte-Gewitter, das Spin-off um „Wolverine“
(fd 39 292), eine der populärsten Figuren, vor allem unfreiwillig komisch. In „X-Men: Erste Entscheidung“ hat Wolverine nun nur einen (freiwillig komischen) Cameo-Auftritt, dafür ist Bryan Singer zurück: Er hat den Film mit produziert und die Story mit konzipiert. Vielleicht war es sein Einfluss, der sich positiv auswirkte: „X-Men: Erste Entscheidung“ ist seit dem ersten Teil
(fd 34 428) der beste Film der Serie und der stimmigste Superhelden-Film seit langem.
Das liegt vor allem an dem Respekt, den die Autoren sowie Regisseur Matthew Vaughn („Der Sternwanderer“, fd 38 368) den Comic-Figuren entgegen bringen. Dass hier ein „Prequel“ präsentiert wird, wirkt nicht wie der Versuch, aus einem zu Tode erzählten Stoff noch das letzte bisschen Substanz zu melken, sondern tatsächlich wie das neugierige Erkunden der Wurzeln von Charakteren, die mehr sind als Stichwortgeber für die nächste Actionsequenz. So schließt die Exposition denn auch direkt an einen Aufhänger aus dem ersten „X-Men“-Teil an, der interessante Spuren zum Verständnis einer der Hauptfiguren legte: Erik Lensherr (der spätere Magneto) wurde als Kind in einem polnischen KZs während des NS-Regimes von seinen Eltern getrennt; angesichts der Verzweiflung in dieser Situation brach sich seine Mutanten-Gabe Bahn, die Beherrschung von Metall. Diese Szene wird nun weitergesponnen: Der Junge wird zum Forschungsobjekt eines Nazi-Arztes, der in der Mutation die wahre Ausprägung des „Übermenschentums“ sieht. Da sich Eriks Potenzial anscheinend nur durch Wut und Schmerz entfesseln lässt, erschießt der Doktor die Mutter des Jungen vor dessen Augen – und schafft sich damit einen Feind, der ihn noch lange nach dem Untergang des Dritten Reichs jagen wird. Diese Feindschaft macht Erik in den 1960er-Jahren zum Verbündeten von Professor Xavier. Der wohlhabende, lebenslustige britische Dandy will das Thema „Mutation“ (er selbst verfügt über telephatische Kräfte) nicht als das gesellschaftliche Problem sehen, das es zu werden droht. Doch als Mutanten anfangen, im Kalten Krieg mitzumischen, lässt er sich von einer CIA-Agentin als Helfer anwerben: Hinter Umtrieben, die darauf abzielen, Russen und Amerikaner in der Kuba-Krise gegeneinander auszuspielen, einen Atomkrieg zu provozieren, die Menschheit damit zu dezimieren und den Mutanten die Vorherrschaft zu sichern, steckt niemand anders als jener (auch mutierte) Ex-Nazi, den Erik jagt. So finden sich Erik und Xavier und einige von ihnen rekrutierte Mutanten zusammen,um dem Doktor und seiner Entourage Einhalt zu gebieten, unterstützt von der CIA-Frau, deren männliche Vorgesetzte am liebsten sämtliche Mutanten einsperren würden.
Dass das nicht ohne actionreichen Zusammenstöße abgeht, bei denen sich die seltsamen Fähigkeiten der Helden und Schurken genüsslich in Szene setzen lassen, ist klar. Vaughn lässt dafür neben bekannten Figuren wie Xavier, Magneto und Mystique auch einige für die Filmreihe neue, mit spektakulären Gaben gesegnete Mutanten antreten, etwa die im wahren Wortsinn diamantharte Emma Frost. Mindestens ebenso viel Sorgfalt wie auf Action, Masken und Effekte (die auch ohne 3D mitreißend sind) setzt der Film auf stimmige Figurenentwicklungen und auf Konflikte, die durch verbale, sehr emotionale Konfrontationen ausgetragen werden und um den inhaltlichen Nukleus des Franchise kreisen: Da steht die Sehnsucht derer, die sich als „Freaks“ fühlen, nach Normalität dem Stolz auf die eigene Besonderheit entgegen; die Angst vor Diskriminierung und der daraus geborene Hass treffen aufs Zutrauen in das humanistische Potenzial der Gesellschaft, auch die Andersartigen akzeptieren zu können. Das Vorwissen der treuen X-Men-Fans darum, dass die Allianz zwischen dem von inneren Dämonen verfolgten Erik und dem noblen, wohlmeinenden, aber hier noch etwas naiven Xavier nicht von Dauer sein wird, sowie die Kenntnis der schäbigen Rolle, die die Normalmenschen im weiteren Schicksal der Mutanten spielen werden, steigern dabei noch einmal die Spannung und die Anteilnahme. Bei allem Humor, den der Film immer wieder entfaltet, gibt dies den leicht melancholischen Grundton vor, der eine schöne Allianz mit dem nostalgischen Sixties-Retro-Look eingeht. Dieser historischen Einbettung zum Trotz wirkt die Reflexion über die menschliche Schwäche, das Unbekannte lieber als Feindbild zu verdammen als sich differenziert damit auseinander zu setzen, wesentlich aktueller als die Post-9/11-Anspielungen in Teil 3, was daran liegt, dass der Stoff nicht nur ein billiger Vorwand für das Spektakel ist, sondern ernst genommen wird. Auch dank der talentierten Darsteller Michael Fassbender und James McAvoy, die die großen Rollenvorbilder Ian McKellen und Patrick Stewart würdig vertreten, ist der rundum gelungene Film für die „X-Men“ Hommage und Erneuerung zugleich.