Als "Doku-Fantasie" entwickeltes Porträt der Stadt Winnipeg, der Geburtsstadt des Regisseurs Guy Maddin, zugleich dessen filmische "Suche nach der verlorenen Zeit". Maddin verbindet Stilmittel des Stummfilms mit einer dynamischen Montage, suchenden Kamerabewegungen und einer melodramatischen Off-Stimme und schafft eine atmosphärische Collage aus familiären "Schlüsselzenen", Episoden und Kuriositäten aus der Geschichte von Winnipeg und seinen Bewohnern sowie Einblicken in dessen städtische Entwicklung. Das fesselnde, surreal anmutende Essay einer Stadt, die ihre Bewohner sowie den Filmemacher nicht loslässt.
- Sehenswert ab 16.
My Winnipeg
- | Kanada 2007 | 79 Minuten
Regie: Guy Maddin
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Filmdaten
- Originaltitel
- MY WINNIPEG
- Produktionsland
- Kanada
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Everyday Pic./Buffalo Gal Pic.
- Regie
- Guy Maddin
- Buch
- Guy Maddin
- Kamera
- Jody Shapiro
- Schnitt
- John Gurdebeke
- Darsteller
- Ann Savage (Mutter) · Louis Negin (Bürgermeister Cornish) · Darcy Fehr (Guy Maddin) · Amy Stewart (Janet Maddin) · Brendan Cade (Cameron Maddin)
- Länge
- 79 Minuten
- Kinostart
- 11.11.2010
- Fsk
- ab 0
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Winnipeg, die kalte Industriestadt in der kanadischen Provinz Mantoba, ist in den Filmen von Guy Maddin ein Evergreen. „Winnipeg, Winnipeg, Winnipeg“, deklamiert der kanadische Filmemacher dann auch mantraartig, „my home for my entire life, my entire life“, als könne er mit diesem Refrain dem Geheimnis seiner Geburts- und Heimatstadt auf die Spur kommen, ergründen, was ihn an diesen Ort bindet, der ihn noch immer „bezaubert, berauscht und benebelt“. „My Winnipeg“ ist ein fiebriger autobiografischer Traum, den Maddin in einer Art Endlosschleife träumt – eine wilde Mischung aus persönlichen Erinnerungen und dokumentarischen Bildern, subjektiven Fantasien und lokalen Mythen. Wie gewohnt verbindet Maddin das Vokabular des Stummfilms (Schwarz-Weiß-Material, Zwischentitel, grobkörnige Bilder) mit einer dynamischen Montage, suchenden Kamerabewegungen und einer melodramatischen Off-Stimme, die den Zuschauer in einen vorwärts treibenden, nicht zur Ruhe kommenden Bewusstseinsstrom einspinnt. Winnipeg, Maddins Muse, sein freudsches Unbewusstes, „the heart of the heart of the continent“, eine Stadt, die wie ein Organismus funktioniert – es gibt das Bild der Eisenbahnschienen als Arterien –, hält seine Bewohner aber auch auf mysteriöse Weise fest. Zum Ausdruck für die geradezu ödipale Bindung der Winnipeger an ihre Stadt wird die jährliche Schnitzeljagd, eine Tradition, die von einem Eisenbahnpionier ins Leben gerufen wurde und sich bis heute fortsetzt. Der Gewinner des Spiels wird mit einer einfachen Fahrkarte belohnt – für den nächsten Zug, der aus der Stadt fährt. Maddin vermutet dahinter versteckte Absicht: Nachdem die Bewohner alle Ecken und Winkel ihrer Stadt erkundet hätten, würden sie in Winnipeg den wahren Schatz entdecken und folglich dort bleiben – eine Erfahrung, die auch er machen musste. Maddin unternimmt dennoch fest entschlossen den Versuch, die Stadt zu verlassen, ihr zu entfliehen. Immer wieder sieht man ihn (verkörpert durch einen Schauspieler) in einem Zugabteil sitzen, während traumartige Bilder vorbeiziehen. Doch der Zug scheint nie anzukommen. Schließlich versucht es Maddin mit einer Art exorzistischem Ritual. Der Filmemacher kehrt in das elterliche Haus zurück, in die Ellis Street 800, und reinszeniert dort archetypische Szenen aus seiner Kindheit. Schauspieler posieren im ehemaligen Wohnzimmer als Brüder und Schwester, während die neue Bewohnerin sich einfach nicht aus ihrem Sessel bewegt. Vergangenheit und Gegenwart existieren hier gleichberechtigt nebeneinander, verschmelzen miteinander – die zeitliche und räumliche Kohärenz löst sich auf, auch das kennt man von der Traumlogik.
Maddins Re-Enactment hat zeitweise den Charakter einer Familienaufstellung, deren wiederholte Ur-Szenen recht bizarr anmuten. So muss ein im Flur ausliegender Teppich gerade gezogen oder eine Fernsehserie kollektiv betrachtet werden, die immer wieder aufs Neue mit einem verhinderten Selbstmord endet. Inmitten dieses Szenarios thront die Mutter, eine allwissende, Furcht einflößende Figur, die von der wundervollen Ann Savage verkörpert wird, eine B-Movie-Ikone der 1940er-Jahre; in Maddins „Brand Upon the Brain“ (2006) spielte sie die kontrollbesessene Mutter. Im letzten Teil entwickelt sich „My Winnipeg“ – der Regisseur nennt den Film eine „Docu Fantasia“ – immer mehr zur Stadtchronik, die von obskuren Begebenheiten (Séancen, ein Pferderennen, das im Eis endete und sämtliche Tiere für den Rest des Winters einfror), aber auch ganz realen stadtpolitischen Entwicklungen erzählt. Von der teilweise brachialen Modernisierung Winnipegs etwa, zu der der Abriss zahlreicher Gebäude zählt, darunter auch das geliebte Eishockey-Stadion. Maddin diagnostiziert Nostalgie als eine Art Volkskrankheit der Winnipeger, von der auch er erfasst worden ist. Doch sein halluzinatorischer Erinnerungstrip ist viel zu visionär, um rückwärts gewandt zu bleiben, zu verrückt, um sich in Sentimentalität zu flüchten. Winnipeg jedenfalls, die Stadt, die vier Jahre älter ist als Maddins Großmutter, scheint trotz ihrer mythenreichen Vergangenheit gegen das Alter gefeit zu sein.
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