Carlos - Der Schakal
Biopic | Frankreich/Deutschland 2010 | 187 (TV-Fassung 333) Minuten
Regie: Olivier Assayas
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Filmbiografie über Aufstieg, Höhepunkt und Fall des Linksterroristen Ilich Ramírez Sánchez, der als "Carlos" in den 1970er-Jahren durch politisch motivierte Anschläge zweifelhaften Ruhm erlangte. In strenger Triptychon-Struktur entwickelt der Film ein facettenreiches Zeitbild der politischen Verwicklungen während des Kalten Krieges. Ein herausragendes, von kinematografischer Energie durchpulstes Porträt, das den linken Terror als Arena eitler Egos demontiert und seinen Protagonisten als erfolgsversessenen "Global Player" zeigt, dessen politischer Idealismus bald auf der Strecke bleibt.
- Sehenswert ab 16.
Filmdaten
- Originaltitel
- CARLOS
- Produktionsland
- Frankreich/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2010
- Produktionsfirma
- Film en Stock/Egoli Tossell Film
- Regie
- Olivier Assayas
- Buch
- Olivier Assayas · Dan Franck
- Kamera
- Yorick Le Saux · Denis Lenoir
- Schnitt
- Luc Barnier · Marion Monnier
- Darsteller
- Édgar Ramírez (Ilich Ramírez Sánchez, "Carlos") · Nora von Waldstätten (Magdalena Kopp) · Alexander Scheer (Johannes Weinrich, "Steve") · Christoph Bach (Hans-Joachim Klein, "Angie") · Julia Hummer (Gabriele Kröcher-Tiedemann, "Nada")
- Länge
- 187 (TV-Fassung 333) Minuten
- Kinostart
- 04.11.2010
- Fsk
- ab 16; f (Kinofassung), ab 16 (TV-Fsg.)
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Biopic
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Beide Fassungen sind als DVD und Blu-ray erhältlich. Die Box mit beiden Fassungen (BD) enthält zudem ein Feature mit Kurzinterviews der am Film Beteiligten.
Diskussion
So enigmatisch wie die Gestalt des Terroristen „Carlos“ ist auch die Form dieses Films, der in mindestens vier verschiedenen Fassungen kursiert. Die längste von ihnen, gezeigt bei der Premiere in Cannes, dauert 333 Minuten, die französische Kinofassung nur 165 Minuten. Auf DVD ist in Frankreich eine 290 Minuten-Fassung erhältlich. Ins deutsche Kino kommt der Film nun als von Assayas selbst geschnittene Version von 190 Minuten und als „Cineastenfassung“ von 333 Minuten.
„Carlos“ erzählt aus dem Leben von Ilich Ramírez Sánchez, jenem militanten Linken aus Venezuela, der vor über drei Jahrzehnten unter seinem Kampfnamen „Carlos“ zum internationalen Medienstar wurde. Der Film setzt 1973 ein, als Sánchez bei der palästinensischen PFLP anheuert und durch spektakuläre Attentate jäh zur Berühmtheit aufsteigt, der in Carlos’ bekanntester Aktion, der Geiselnahme der OPEC-Konferenz 1975 in Wien, kulminiert. Durch die Annahme von Lösegeld, die fehlende Bereitschaft, das eigene Leben für von außen oktroyierte Prinzipien zu opfern, und vor allem durch die Souveränität, die Carlos bei allen taktischen Entscheidungen an den Tag legte, grenzt er sich dann aber innerhalb der „Internationale der Gewalt“ von selbst aus. Überzeugend beschreibt Regisseur Olivier Assayas jene „goldenen Jahre“ des Terrorismus unter anderem als Kampf eitler Egos, in dem Carlos auf Dauer unterliegt: Er wird aus der PFLP ausgeschlossen, womit er einen Teil seines Schutzes und die für seine „Aktionen“ notwendige Infrastruktur verliert. Ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre operiert er mit einer Handvoll treuer Gefolgsleute als eine Art Untergrund-Söldner, ein „Terrorist for hire“, der zwar nie den Rahmen linksextremer Politikentwürfe verlässt, sich aber geschmeidig in den Dienst jenes Auftraggebers stellt, der den besten Preis bietet. Für eine Weile findet er Unterschlupf in der DDR, dann in Ungarn, später im Nahen Osten. Mit den Jahren werden die Aktivitäten mehr und mehr politisch „entkernt“. Mit der Auflösung der Blockkonfrontation nach 1989 gerät Carlos in die Isolation und wird zur lästigen Bürde seiner Schutzherren. Dies mündet in seine Verhaftung 1994. Das letzte Drittel des Films dreht sich primär um diesen zunächst allmählichen, dann aber sich rapide beschleunigenden Abstieg.
Die Fakten sind weitgehend bekannt. Spätestens Barbet Schroeders sensationelle Dokumentation „L’avocat de la terreur“ (2007) enthüllte ausführlich Carlos’ Wirken. Entscheidend für das grandiose Funktionieren des Films ist jedoch die Inszenierungskunst von Assayas. „Dreams Never End“ heißt der „New Order“-Song, der „Carlos“ leitmotivisch durchzieht – ein Dokudrama als Tagtraum und Bewusstseinsstrom. Der Regisseur erfasst den Look, den Sound und den Geschmack einer vergangenen Ära. Kino aus Bewegung, Hitze und Sinnlichkeit, dynamisch, überzeugend und schön. Voller Action und extrem ökonomisch in seiner Narration: In strenger Tryptichon-Struktur zeigt der Film Aufstieg, Höhepunkt und Fall seiner Hauptfigur. Knapp und kühl, trotz seiner Länge nie „auserzählt“, sondern gelassen in Form offener Skizzen, zugleich mit einem Grundtempo und dem Gefühl für Rhythmuswechsel, das Assayas wie nur wenige beherrscht und schon in Filmen wie „Irma Vep“ (fd 33 154), „Demonlover“ (fd 36 627) und „Boarding Gate“ perfekt entwickelt hatte: immer unruhig, nervös, wie auf dem Sprung sind seine Bilder. Carlos selbst steht im Zentrum, wird aber zugleich fortwährend gespiegelt: durch reale Spiegel, die immer wieder auftauchen und in denen Carlos sich selbst betrachtet; in den Frauen, die er wie Groupies um sich schart, in den Zuhörern, die er braucht, in den Auftraggebern, die ihm durch schiere Präsenz seine eigene Bedeutung bestätigen, in den Medien, die über ihn berichten. Auch in den Einzelheiten der Handlung ist alles unglaublich reich und anregend, voller kaum ausschöpfbarer Details, für den Betrachter verführerisch, ohne moralisch zu verharmlosen. Terrorismus erscheint hier als globale „new economy“, und so hat Assayas’ Carlos eine gar nicht so ferne Ähnlichkeit mit den gewissenlosen Finanzhaien unserer Epoche: Er erscheint als Global Player, als erfolgsorientierter Unternehmer, der fortwährend Aufträge akquiriert und das Geld fremder Investoren ausgibt. Hervorragend fängt der Film auch die Stimmung des Kalten Krieges ein, die Verschwörungen, die großen Strategien und kleinen Taktiken. Eine Welt, in der jeder auch sein eigenes Süppchen kocht. In einer großartigen Szene sieht man etwa Juri Andropow, seinerzeit KGB-Chef, wie er die versammelten Vertreter der linksradikalen Organisationen zur Ermordung des ägyptischen Staatschefs Anwar el Sadat aufruft. Die politische Provokation des Films liegt in solchen kurzen, präzisen Einblicken und in seiner zentralen, freilich nie explizit formulierten These: Es gibt keinen Terrorismus, der nicht staatlich ist; auch hinter „Carlos“ standen immer irgendwelche Regierungen, die die Aufträge gaben, sie finanzierten, die Gruppe schützten oder zumindest duldeten.
Assayas’ Film ist alles, was Soderberghs „Che“ (fd 39 320, fd 39 383) sein wollte: Ein Biopic über einen Berufsrevolutionär, das politische Gewalt ernst nimmt und den Wahn im Radikalismus einfängt, ohne ihn blind zu verdammen; ein Film, der klar macht, dass man diese Menschen Mörder nennen muss, ohne dass deswegen wirklich viel über sie gesagt wäre. Gedreht wurde in Europa und im Libanon; die Schauspieler stammen meist aus den gleichen Regionen wie ihre Figuren – Grund genug, die Originalfassung zu empfehlen: Nur im Reichtum der Sprachen und Akzente stellt sich ein authentischer Eindruck der Ereignisse ein. „Carlos“ ist auch eine wunderbare Schauspielarbeit und einmal mehr ein Beispiel dafür, dass deutsche Filmemacher zu wenig (und immer nur das Gleiche) mit ihren Schauspielern anzufangen wissen: Julia Hummer hat man außer bei Christian Petzold nie so gut gesehen wie hier als „Nada“; Nora von Waldstätten ist souverän und facettenreich in der schwierigen Rolle der Carlos-Gattin Magdalena Kopp, Alexander Scheer als Weinrich eine Wiederentdeckung.