Leningrad - Der Mann, der singt

Musikfilm | Deutschland/Russland 2009 | 82 Minuten

Regie: Peter Rippl

Musikdokumentation über die russische Underground-Band "Leningrad", deren Musik russische Folklore, Punk und Ska mit lyrisch-aggressiven Texten in der Vulgärsprache Mat verbindet. Dem Film gelingt es zwar dank der suggestiven, unmittelbar ins Geschehen eingreifenden Kameraarbeit, die Kraft und Dynamik der Live-Auftritte zu vermitteln; er stößt jedoch an Grenzen, wenn es gilt, die Rolle der Band als Tabubrecher verständlich zu machen, da sich die raue Poesie des stark codierten Mat nur schwer vermitteln lässt. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Russland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
best before filmprod./Studio Petruschka/ShnurOK
Regie
Peter Rippl
Buch
Peter Rippl
Kamera
Ingvar Arnswald · Sergej Jermolenko · Robert Metsch · Peter Rippl · Roland Bertram
Musik
Sergej Shnurov (Sergej Shnurov,) · Leningrad
Schnitt
Peter Rippl
Länge
82 Minuten
Kinostart
20.05.2010
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Musikfilm | Dokumentarfilm
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Diskussion
Derbe Provokation und Rebellion gegen das Establishment bilden essenzielle Versatzstücke der internationalen Rock-Ästhetik, von Elvis Presleys suggestivem Hüftschwung über den anarchischen Punk der Sex Pistols bis zu Brachial-Metallern wie Rammstein. Im postsozialistischen Russland hat die Band „Leningrad“ aus Versatzstücken russischer Folklore, westlichem Punk und jamaikanischem Ska einen kruden Mix kreiert, der Vulgärsprache, Anarchie, Rebellion und Lebensexzesse in eine kollektive Party ummünzt. „Wir mögen alles, was schlecht und negativ ist“, erklärt der Frontmann Sergej „Shnur“ Shnurov und fügt hinzu: „Was alle blöd finden, passt gut zu uns.“ Mit „alle“ meint der charismatische Vollblutmusiker jene, die einer geregelten Arbeit nachgehen, Alkohol höchstens in begrenzten Mengen zu sich nehmen und glauben, das Leben meine es am Ende gut mit ihnen. Im (musikalischen) Westen nichts Neues, könnte man mit Remarque sagen. In Russland sind Leningrads „Performance-Kunst mit Musikinstrumenten“, wie Shnur die Auftritte der Gruppe gerne beschreibt, explosiv, subversiv und polarisieren die Öffentlichkeit. Seit der Moskauer Bürgermeister ein Auftrittsverbot gegen die Band erließ, ist sie purer Kult. Vor allem außerhalb Russlands vermochte Leningrad, Obszönitäten auf MTV, in Videospielen und Filmsoundtracks erfolgreich zu platzieren. Der deutsche Dokumentarfilmer Peter Rippl machte sich kurz vor der Auflösung der Band auf den Weg nach St. Petersburg, um anhand von Interviews mit Bandmitgliedern, Musikproduzenten und Fans dem Phänomen nachzuspüren. Herausgekommen ist dabei eine etwas einseitige Heldenverehrung des Frontmanns Shnur. Der beherrscht die Regeln des Marketings und scheint sich mit einem Augenzwinkern gerade nicht darum zu kümmern. So inszeniert Rippl eine kleine Unplugged-Session vor weißer Leinwand, in der Shnur mit Konzertgitarre und Schifferklavier mit reibeiserner Inbrunst über die Freuden mit ein „paar Mädels“ singt. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass Shnur es nicht für notwendig befand, eine gerissene D-Saite auszutauschen. Er ist der spontane, ungehobelte Berserker mit feinem Gespür für die viel beschworene russische Seele. Alle im Film porträtierten Gesprächspartner betonen die bemerkenswerte Sprache und Poesie von Shnurs Texten, die allerdings gerade für kulturelle Außenseiter kaum zu dekodieren ist. Darin liegt ein Problem des Dokumentarfilms; denn die Texte bedienen sich des russischen Mat, einer offiziell verbotenen Vulgärsprache. Ein Musikkollege setzt an, dem Dokumentaristen die Magie der Lyrik zu erklären, winkt wenig später aber kapitulierend ab. Auch die deutschen Untertitel wissen sich mitunter nur noch in ein „….!“ zu flüchten. Mat ist ein Paradoxon, denn auf der einen Seite ist es politisch tabuisiert, andererseits benutzen es angeblich „alle Russen“. Obszönitäten, Sexismen, Fäkalausdrücke und ein Arsenal protziger Kraftausdrücke bilden das Vokabular zum Mitgrölen und Mittanzen. Die handzahmen deutschen Übersetzungen vermitteln nur sehr bedingt etwas von der politischen Sprengkraft dieser in der soziokulturellen Geschichte Russlands verankerten Tabubrüche. Rippl vermag bei einem Live-Auftritt im Londoner „Lock 17“ jedoch eine Ahnung jener neuen Lebensenergie einzufangen, die das 14-köpfige Ensemble auf der Bühne versprüht. Die Kamera nähert sich dem Berserker und seiner wilden Horde bis auf wenige Zentimeter. Zuweilen springen die Bilder mit dem Publikum und reißen einen förmlich mit. Die „kleine Geschichte der Gruppe Leningrad“, wie es im Vorspann heißt, macht vor allem auf emotionaler Ebene klar, weshalb der russische Ska-Punk im Westen mit seinem unbändigen Drive und seiner beseelten Aggression so erfolgreich die Vorstellungskraft aktiviert. Die weitreichende Bedeutung der Tabubrüche im russischen Kontext lässt sich aufgrund der Sprachbarrieren für alle jene, für die Mat nur drei Buchstaben darstellt, kaum erkunden. Insofern kann Rippls Heldenverehrung zumindest als gelungenes Scheitern gefeiert werden, das die Neugier auf die innovative Musikszene Russlands verstärkt.
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