Ähnlich legendär wie die angebliche Päpstin ist die antike Philosophin Hypatia. Laut Überlieferung lehrte sie Ende des 4. Jahrhunderts in Alexandria und wurde als „Heidin“ von fanatischen Christen ermordet. Auch bei ihr lädt die unsichere Quellenlage zu allerlei Spekulationen ein: Starb sie als Faustpfand eines innerreligiösen Machtkampfs, in dem der Patriarch Kyrill die Fäden zog? Hat sie, wie es Alejandro Amenábar in seinem mitreißenden Historienepos nahelegt, das kopernikanische Weltbild um mehr als tausend Jahre vorweggenommen? Sicher ist wohl nur eins: Die Umstände ihres Todes machten Hypatia zur Märtyrerin der aufgeklärten Welt.
Amenábars Film beginnt im Jahr 391. Das römische Reich zerfällt, der Kaiser hat sich zum Christentum bekannt, nun wird mit Alexandria die stärkste Festung der antiken Welt geschleift. In der berühmten Bibliothek liegen die Wissensschätze der hellenischen Kultur, unzählige Schriftrollen, aus denen Hypatia, die Tochter des Philosophen und Bibliotheksleiters Theon, in ihren Seminaren die ersten und die letzten Fragen ableitet. Unter ihren Schülern befinden sich die Christen in der klaren Minderheit, was wohl auch Theon über die wahren Machtverhältnisse auf der Agora, dem großen Versammlungsplatz im Zentrum der ägyptischen Metropole, hinweg täuscht. Als christliche Provokateure die in Stein gehauenen Götzen des Isis-Kults verhöhnen, mobilisiert er seine Schülerschaft, um den Emporkömmlingen mit dem Knüppel die religiösen Grenzen aufzuzeigen. Im Getümmel zeigt sich rasch, wer die neuen Herrscher der Straße sind: Immer mehr Christen strömen herbei, bis sich die geschlagenen „Heiden“ hinter die schweren äußeren Tore der Bibliothek zurückziehen. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, bestimmt die römische Obrigkeit, dass die belagerte Bibliothek unverzüglich geräumt werden muss – und gibt sie damit zur Plünderung durch den aufgehetzten Pöbel frei. Hypatia kommt mit dem Leben davon, aber wie viel Wissen geht verloren! Ende des ersten Teils.
Im zweiten Teil ist etwa ein Jahrzehnt ins Land gegangen. Hypatias Musterschüler ist zum Christentum konvertiert und leitet die städtische Präfektur; ihr einstiger Sklave hat sich den Parabolani angeschlossen, einer Mischung aus Schlägertrupp und religiöser Sittenpolizei. Beide sind immer noch in Hypatia verliebt, doch diese kennt nur einen Bräutigam: die Wissenschaft. Die Nächte verbringt sie in Betrachtung des Sternenhimmels, dessen scheinbar widersprüchliche Bewegung sie zu verstehen versucht. Amenábar sorgt dafür, dass ihr Blick erwidert wird: Immer wieder stößt die Kamera in luftleere Sphären vor und kehrt im Flug zur Erde zurück. Einmal, am Höhepunkt des Religionskriegs, ist die schreckliche Not der Menschen selbst im Weltall zu hören. Und plötzlich ist der Planet nur noch ein einziger, vielstimmiger Klageschrei.
In der Gestalt des Patriarchen verschafft sich das fundamentalistische Christentum brutal Geltung. Erst entledigt sich Kyrill der jüdischen Bevölkerung durch ein Pogrom, dann versucht er, den römischen Präfekten in die Knie zu zwingen. Sein politischer Hebel ist Hypatias Einfluss auf ihren Schüler; denn schließlich steht in der Bibel geschrieben: „Das Weib schweige in der Gemeinde.“ Das Tor zum finsteren Mittelalter stößt der Film mit dem Schwert und Paulus auf, wobei sich der Regisseur recht eindeutig auf die Seite des Atheismus schlägt. Zwar gibt es zaghafte Ansätze, die guten Seiten des Christentums von den schlechten zu scheiden, insgesamt wirkt die Mischung aus inbrünstigem Glauben und skrupellosem Willen zur Macht aber vor allem beängstigend. Auch wenn man heute eher Parallelen zum islamischen Fundamentalismus erkennt – für Amenábar ist es ein Merkmal aller Religionen, dass sie die Stimme der Vernunft mit allen Mitteln unterdrücken. Seine Hypatia ist dazu der idealisierte Gegenentwurf: Als Wissenschaftlerin muss sie zweifeln, was dem Glauben im Grunde keinen Platz mehr lässt, und ihre Liebe zur Weisheit schließt die Liebe zu den Menschen ein. Sie ist eine Art weiblicher Christus und zugleich mehr als das: der barmherzige Anti-Christ aus dem Geist der Aufklärung. Man staunt nicht schlecht, dass der spanische Regisseur 50 Mio. Euro für sein Historienepos sammeln konnte – und ist beschämt, wenn man das opulente Ergebnis mit einem thematisch verwandten deutschen Renommierstück vergleicht. „Agora – Die Säulen des Himmels“ hat alles, was Sönke Wortmanns „Die Päpstin“
(fd 39 554) schmerzlich fehlt: spektakuläre Bilder und überlebensgroße Emotionen, psychologisches Feingefühl und eine Liebe zur aufklärerischen Vernunft, die nicht nur vorgegaukelt, sondern tief empfunden und mit Entschiedenheit gegen alle Anfechtungen eines fanatischen Glaubens verteidigt wird. Dass sich Amenábar dabei gelegentlich selbst widerspricht und sich, zumal im Fall des Patriarchen Kyrill, erhebliche künstlerische Freiheiten erlaubt, ist verständlich. Schließlich muss, wer die schöne Hypatia heilig sprechen will, ihren mutmaßlichen Mörder auf dem schnellsten Weg zur Hölle schicken.