Wo die wilden Kerle wohnen

Kinderfilm | USA 2009 | 101 Minuten

Regie: Spike Jonze

Ein kleiner Junge, der unter seiner Einsamkeit leidet und als Scheidungskind mit seinen Aggressionen ringt, reist auf eine geheimnisvolle Insel, auf der er den "wilden Kerlen" begegnet. In deren abenteuerlicher Welt wird er zum König, bekommt es aber bald mit ähnlichen emotionalen Problemen wie in seinem wirklichen Leben zu tun. Sensibel-melancholischer Kinderfilm, der mit ausdrucksstarken Bildern Maurice Sendaks Bilderbuch-Klassiker (1963) umsetzt und unverkrampft-offen in Schattenseiten kindlichen Erlebens eintaucht. - Sehenswert ab 10.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
WHERE THE WILD THINGS ARE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Warner Bros./Playtone/Wild Things Prod.
Regie
Spike Jonze
Buch
Spike Jonze · Dave Eggers
Kamera
Lance Acord
Musik
Karen O. · Carter Burwell
Schnitt
Eric Zumbrunnen · James Haygood
Darsteller
Max Records (Max) · Catherine Keener (Mutter) · Mark Ruffalo (Freund)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Kinderfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Selten ist kindliche Einsamkeit so gefühlvoll in Bilder übersetzt worden: Die Handkamera folgt dem Spiel eines kleinen Jungen mit dem an den Straßenrand geschobenen Schnee, sie pirscht zum Schneeball-Angriff auf die Freunde der großen Schwester heran und wird im gerade fertig gestellten Iglu gleichsam vergraben, auf das sich die Teenager werfen. Später liegt das Kind unter dem Computertisch seiner Mutter, blickt durch einen Holzrahmen auf ihr angestrengtes Gesicht, zupft an ihrer Feinstrumpfhose und erzählt von dem einsamen Vampir, der sich seine Reißzähne an gläsernen Hochhäusern ausgebissen hat und nun auf ewig ausgegrenzt wird. Max heißt dieses tieftraurige Kind, das am Abend in seinem weißen Wolfskostüm durch die Wohnung wütet und brüllend seine Mutter beißt. Der Biss, das zornige Rasen, die sinnlose Zerstörung von runden und hohen Gebäuden – alles wiederholt sich, als Max auf der Insel der wilden Kerle landet. Hier herrscht die pure Anarchie und eine ähnliche, an allem nagende Einsamkeit. Wie eine Krankheit hat sie die überdimensionalen Fellwesen mit den spitzen Zähnen, den treuen Augen und den kleinen Hörnchen überzogen – am meisten jedoch den brummigen Carol und seine große Liebe KW, die sich lieber an zwei allwissende Eulen wendet, statt Carols Wutausbrüche weiter über sich ergehen zu lassen. Sinnlos stapfen die wilden Kerle durch Wälder, Wüsten und Küsten, schlagen Löcher in ihre Häuser und Kerben in die darum liegenden Bäume. Sie machen den flunkernden Jungen, den ersten, den sie nicht verschlungen haben, zu ihrem König, geben ihm Krone und Zepter, tollen mit ihm durch die Wälder und schlafen als riesiger Körperknäuel gemeinsam ein. Sie haben Spaß, zum ersten Mal seit Jahren, insbesondere als sie ein architektonisch überdimensioniertes Wohnraumprojekt gemäß Carols ausgetüftelter Miniaturstadt mit Unmengen an Zweigen zu verwirklichen suchen – und das filigraner, als man es ihren Tatzen zugetraut hätte. Als Maurice Sendaks Bilderbuch 1963 mit zehn Sätzen und kaum mehr Illustrationen erschien, stieß die „zu gewalttätige und furchteinflößende“ Geschichte in Amerika auf ähnliche Kritik wie jetzt Spike Jonzes Kino-Interpretation. „Where the Wild Things Are“ wurde dennoch zum Bestseller, und das gilt wohl auch für Jonzes Verfilmung, die sich als fantastische Fabel nicht scheut, einen zwiespältigen Kinderhelden mit all seinen Ängsten und Fehlern als Identifikationsfigur anzubieten. Es stimmt: Jonzes märchenhafter Film ist nicht primär für Kinder gemacht, sondern erzählt vielmehr von dem Gefühl, Kind zu sein. Die Familie der wilden Kerle ist ähnlich zerbrochen und instabil wie die des Scheidungskindes Max. Sie wohnen auf einer isolierten Trauminsel, auf der sich seine Ängste und Sehnsüchte materialisieren und auf der Carols und KWs zerrüttetes Verhältnis Max und seine Mutter widerspiegeln. Bei Sendak verwandelt sich das Kinderzimmer des ohne Abendbrot ins Bett geschickten Jungen in einen unendlichen Wald, und auch bei Jonze ist der Übergang zwischen Wachen und Träumen, zwischen Realität und Fantasie ähnlich fließend wie in „Being John Malkovich“ (fd 34 219). Wie dort die Figuren durch einen Wandtunnel kurzerhand in das Gehirn des Schauspielers Malkovich rutschen, besteigt auch Max ein Segelboot, überfährt einen riesigen Ozean und wird von einem Unwetter an die Küste geworfen. Er braucht weder Essen, noch droht ihm im wüstesten Gerangel jemals Gefahr. Mit Max taucht man in eine Welt, in der einem per se nichts passieren kann – ganz wie im Kino. Das Fantastische ist selbstverständlich, die Abenteuerlust ebenso grundlegend wie die kindliche Hoffnung, alles irgendwie wieder gerade rücken zu können; dramatisch und gar nicht harmlos sind allein die inneren Gefühle, die Furcht, die Aggression und das Unverständnis, die eine Kindheit begleiten können. Sendak und Jonze nehmen ihr junges Publikum ernst, schonen es nicht vor negativen Gefühlsausbrüchen und gravierenden Problemen. Sie entführen in eine Gesellschaft emotional Erblindeter, unter denen der Einäugige König sein darf. Max’ wilde Kerle, unter deren ausladenden Kostümen reale Schauspieler stecken, deren verblüffende Mimik von Computern generiert wurde und deren Stimmen Stars wie Forest Whitaker und Paul Dano gehören, sind die zu Fleisch gewordenen Monster seiner eigenen Einsamkeit. Vielleicht war es diese unverkrampfte Darstellung kindlicher Ängste oder der Glaube, dass Heranwachsende mehr verstehen und richtig einzuordnen wissen, als so mancher Erwachsene meint, die Skepsis an dieser wunderschön melancholischen Inszenierung hervorgerufen haben. Jonzes Verortung der inneren und äußeren „Wild Things“ wagt sich im Vergleich zu vielen anderen stilisiert-oberflächlichen Kinderfilmen um so vieles weiter hinein in die fantastischen Untiefen der menschlichen Psyche, dass man wie Max lange Zeit gar nicht mehr auftauchen möchte.
Kommentar verfassen

Kommentieren