Shutter Island

Thriller | USA 2009 | 138 Minuten

Regie: Martin Scorsese

Ein US-Marshal fahndet auf einer Insel, die eine Anstalt für geisteskranke Kriminelle beherbergt, nach einer verschwundenen Patientin. Bald stößt er auf Indizien, dass in den düsteren Mauern Grausiges geschieht, doch auch seine eigene Vergangenheit wirft dunkle Schatten. Suggestiver Horror-Thriller, der Genremuster und filmgeschichtliche Anleihen virtuos zu einem doppelbödigen Spiel zwischen Wahn und Wirklichkeit verwebt und über Gewaltverhältnisse reflektiert, die wie ein unentrinnbarer Fluch persönliche Schicksale, aber auch die jüngere Geschichte prägen. So sehr die atmosphärisch dichte Inszenierung auch fesselt, bleibt der Film in seiner Aussage eher vage. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SHUTTER ISLAND
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Paramount Pic./Phoenix Pic./Sikelia Prod./Appian Way/Hollywood Gang Prod.
Regie
Martin Scorsese
Buch
Laeta Kalogridis
Kamera
Robert Richardson
Schnitt
Thelma Schoonmaker
Darsteller
Leonardo DiCaprio (Teddy Daniels) · Mark Ruffalo (Chuck Aule) · Ben Kingsley (Dr. John Cawley) · Emily Mortimer (Rachel Solando 1) · Michelle Williams (Dolores Chanal)
Länge
138 Minuten
Kinostart
25.02.2010
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Thriller | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die Standardausgabe (DVD) enthält keine erwähnenswerten Extras. Die BD und die "Limited Edition" (DVD) enthalten zumindest die Feature "Behind the Shutters - Vom Roman zum Film" (17 Min.) und "Into the Ligthhouse - Historische Entwicklung der Psychiatrie in den USA" (21 Min.). Letzteres beschäftigt sich mit der Darstellung psychisch gestörter Menschen im Film.

Verleih DVD
Concorde/Eurovideo (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt., dts dt.)
Verleih Blu-ray
Concorde (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Diskussion
In den Filmen von Martin Scorsese ist der Blick in den Spiegel nie harmlos. „Redest du mit mir?“, fragte Travis Bickle sein Spiegelbild und forderte mit diesem das eigene Schicksal und die ganze Welt heraus. Sein Amoklauf in „Taxi Driver“ (fd 19 983) war nicht zuletzt ein Akt der Selbstzerstörung, dessen Wurzeln sich bis zu Scorseses frühem Kurzfilm „The Big Shave“ zurückverfolgen lassen. Auch dort missfiel einem Mann sein Ebenbild, weshalb er nach vollendeter Rasur wieder von vorn beginnt, sich immer mehr Schnittwunden zufügt und sich schließlich die Kehle durchschneidet. Es ist also nicht nebensächlich oder unschuldig, wenn Scorseses Held in „Shutter Island“ gleich zu Beginn prüfend in den Spiegel schaut. „Reiß’ dich zusammen!“, beschwört sich der von Leonardo DiCaprio gespielte US-Marshal Teddy Daniels, als er während der Überfahrt zur Gefängnisinsel Shutter Island seekrank wird. Mühevoll versucht er, vor seinem neuen Untergebenen das Gesicht zu wahren – für ihn ist es undenkbar, auf halbem Weg zu einer Haftanstalt für geisteskranke Mörder als Schwächling dazustehen. In der Ferne kommen die Umrisse dieser Insel der Verdammten näher, die Musik beginnt zu kreischen und zu hämmern, und während man sich noch fragt, warum Scorsese das Spiegelmotiv mit derartigem Aufwand orchestriert, legt die Fähre an und entlässt ihre Passagiere in eine virtuos inszenierte Welt der falschen Fährten und psychologischen Traumgespinste. Am Anfang wirkt alles wohl geordnet: Daniels und sein Partner Chuck Aule sollen eine Insassin finden, die auf mysteriöse Weise aus ihrer Zelle entkommen konnte und seitdem verschwunden ist. Auf ihrem Weg in das Hochsicherheitsgebäude passieren sie etliche schwere Türen und kommen nach ersten Befragungen zu dem Schluss, dass ihnen die Wahrheit vorenthalten wird. Es ist 1954, und Dr. Cawley, der Leiter der Institution, hält sich zu Gute, seinen geisteskranken Patienten tatsächlich helfen zu wollen, statt sie wie in alten Zeiten nur einzukerkern und mit drastischen Mitteln ruhig zu stellen. Daniels überzeugt das nicht. Er hegt den Verdacht, auf Shutter Island würden die Menschenversuche der Nationalsozialisten fortgeführt – nunmehr im Auftrag der US-Regierung, die sich im Kalten Krieg alle Möglichkeiten offen halten will. Im Lauf ihrer Ermittlungen stoßen die Marshals auf versteckte Hinweise, dass hinter den dicken Gefängnismauern einiges nicht geheuer ist. Eine Insassin kritzelt eine Warnung aufs Papier, die Entflohene hinterließ eine Nachricht, die Daniels auf die Spur eines überzähligen Gefangenen führt. Scorsese lässt keine Gelegenheit aus, um das Gemäuer in ein unheilvolles Licht zu tauchen, doch auch der finster entschlossene Held trägt Geheimnisse und traumatische Erinnerungen mit sich herum. Immer wieder irrlichtern Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg durch die Düsternis: Es sind Daniels’ Erinnerungen an die Befreiung eines Konzentrationslagers, an Leichenberge, ausdruckslose Kinderaugen und das von ihm befohlene Massaker an einem deutschen Wachbataillon. Aus Daniels’ Familienalbum stammen dagegen die Traumbilder einer zu Asche verglühenden Frau. In einer schwachen Sekunde gesteht er seinem Partner, dass er vor allem aus einem Grund nach Shutter Island gekommen ist: Um den Brandstifter zu treffen, der den Tod seiner Frau auf dem Gewissen hat. Am Anfang erscheint Teddy Daniels als geradezu untypische Scorsese-Figur: ein Mann des Gesetzes, ein Kriminalist, der von Berufs wegen alles unter Kontrolle behält. Doch nach und nach reiht er sich immer deutlicher in den Reigen anderer Scorsese-Figuren ein: Travis Bickle, Jake La Motta, und Howard Hughes (aus „Aviator“, fd 36 877), der Rettungssanitäter aus „Bringing Out the Dead“ (fd 34 225) und selbst Newland Archer aus „Zeit der Unschuld“ (fd 30 532) – sie alle sind gebrochene Helden, denen das Leben aus den Fugen gerät und deren Verlorenheit sich auf mehr oder minder gewalttätige Weise gegen sie selbst richtet. In einer Szene von „Shutter Island“ führt Max von Sydows deutschstämmiger Psychologe eine feinsinnige Unterscheidung ein, die für Scorseses Gesamtwerk von entscheidender Bedeutung ist: Er nennt die US-Marshals „men of violence“, also Männer, die Gewalt gesehen, erlebt und mitunter ausgeübt haben, und grenzt sie von den „violent men“ ab, die Gewalt in sich tragen wie ein Schicksal. An dieser Grenze bewegen sich beinahe alle Figuren Scorseses, und darüber hinaus kokettiert der Regisseur selbst gerne damit, in Sachen Gewalt ein Grenzgänger zu sein. Seine Filme sind Paradebeispiele für die Frage, wo die Gewaltdarstellung als erzählerisches Mittel gerechtfertigt erscheint und wo sie eine filmische Sensation ist, die sich ausreizen lässt wie Ergriffenheit in einem Melodram. Streng genommen, erschöpft sich sein Werk in diesem Komplex gebrochener männlicher Identität; ein Komplex, den er schon deswegen nicht abschütteln zu können scheint, weil er darüber hinaus wenig zu erzählen hat. Ihn treibt weniger ein Sendungsbewusstsein als die reine Begeisterung am Filmemachen an; in „Shutter Island“ wird dieses Missverhältnis zwischen dem filmgeschichtlichen Reichtum seiner Filme und dem Fehlen einer inneren Überzeugung besonders deutlich. Scorsese speist seinen psychologischen Horrorfilm aus einer Vielzahl von Vorbildern, unter denen der Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (fd 24 620) das offensichtlichste ist, und belebt den alten Stoff stilsicher mit dem geläufigen Ausstattungs- und Musik-Repertoire des Genres. Es ist bezeichnend, dass alle Kunstfertigkeit am Ende nur eine Schimäre gebiert. In einigen Momenten erscheint die Gefängnisfestung als Zuflucht vor einer verrückt gewordenen Welt, deren Irrsinn sich in KZs und Atombomben manifestiert, und „Shutter Island“ beinahe als Porträt einer historischen Epoche heißer und kalter Kriege. Doch in dem Maß, in dem die Gewissheiten der Erzählung schwinden, greift die Paranoia um sich. Alles scheint verdächtig, und Scorsese legt selbst dann noch falsche Fährten, wenn man ihnen längst nicht mehr folgen mag.
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