Ein zweiter „Heat“
(fd 26 729) oder „Collateral“
(fd 36 686) ist Michael Manns „Public Enemies“ leider nicht geworden. Eher schon eine Art Remix von „Heat“ in historischen Kostümen, eine Tiefenbohrung, deren Realismus-Effekte durch den stylishen Einsatz der digitalen Kameras und ein offensives Pop-Verständnis konsequent auf Distanz gehalten werden. Hier werden keine historischen Medienbilder „re-enacted“; der Regisseur bezieht auch keine explizite Stellung zum Geschehen, sondern geht gleichfalls auf Distanz: Er spielt lediglich mit Versatzstücken des allzu Bekannten und hat dem vielleicht auch nichts hinzuzufügen. Die Geschichte des Gangsters John Dillinger (und diejenige seiner einschlägigen Kollegen Pretty Boy Floyd, Babyface Nelson, Dutch Schultz & Co.) ist schon mehrfach verfilmt worden und Teil der amerikanischen Popkultur; außerdem sollen einige Gangster-Darstellungen des klassischen Gangsterfilms wie Humphrey Bogarts Performance in „The Petrified Forest“ (1935) bereits durch Dillingers öffentliche Persona inspiriert worden sein. Doch „Public Enemies“ ist nur sehr bedingt eine Hommage an den klassischen Gangsterfilm und dessen New-Hollywood-Revival, noch investierte Michael Mann viel Mühe in ein präzises Psychogramm Dillingers oder dessen Kontrahenten, dem FBI-Fahnder Melvin Purvis. Als Dillinger seine Liebe Billie Frechette überreden will, mit ihm zu kommen, und sie wissen will, mit wem sie es überhaupt zu tun hat, liefert er ihr eine lachhaft stichwortartige Zusammenfassung seiner Biografie, die nur auf die im Film gleich mehrfach angespielte Pointe hinausläuft, man müsse ganz in der Gegenwart leben und sich um das Morgen nicht bekümmern. Doch selbst die Romanze zwischen Frechette und Dillinger bekommt keine Tiefe, sondern wird rein funktional als Voraussetzung für Verrat bzw. Treue unter Folter eingesetzt.
Soll man „Public Enemies“ allein dadurch zu beschreiben versuchen, was der Film nicht leistet? Man kommt dem, worum es Mann gegangen sein mag, eher auf die Spur, wenn man sich den Titel der Buchvorlage von Bryan Burrough vergegenwärtigt: „Public Enemies: America’s Greatest Crime Wave and the Birth of the FBI“. Es geht Michael Mann um die Ursprünge des Pop-Mythos „Staatsfeind Nr. 1“ vor dem Hintergrund der großen Depression der frühen 1930er-Jahre, als der Überfall auf eine Bank im Vergleich zur Gründung einer Bank als das geringere Verbrechen erschien. Die Gangster um Dillinger spezialisieren sich auf Banküberfälle im ländlichen Mittleren Westen und nutzen die Vorteile von Staatsgrenzen und Pferdestärken ihrer Fluchtfahrzeuge. Als das Treiben der Gangster, die durchaus auf Sympathien der Bevölkerung treffen, von den Medien als „Crime Wave“ bezeichnet wird, schlägt die Stunde des J. Edgar Hoover, der die Gelegenheit nutzt, die Bundesbehörde gegen alle Widerstände aufzurüsten und die Fahndungsmethoden zu professionalisieren. Es geht jetzt um die Antizipation von Verbrechen statt um eine Reaktion darauf; es geht um die innere Mobilmachung und Aufrüstung der Exekutive. Die Art und Weise, wie Melvin Purvis den Gangster Pretty Boy Floyd jagt und schließlich „erlegt“, liefert einen ersten Vorgeschmack auf das Folgende. Die Figur des J. Edgar Hoover ist mittlerweile schon zu hinreichend diskreditiert, als dass Michael Mann ihr noch viel Aufmerksamkeit widmen müsste. Hier reichen ein paar Folterszenen und der Hinweis auf den italienischen Faschismus, um das FBI in seinem „Krieg gegen das Verbrechen“ zu charakterisieren. Zugleich aber unterliegt auch das organisierte Verbrechen einem Strukturwandel, der einer anderen Rationalität folgt als der nomadisierender Bankräuber-Banden, die zudem – wie das Beispiel von Babyface Nelson zeigt – nicht nur aus coolen, stilbewussten Typen wie John Dillinger bestehen, sondern auch psychotische Gewalttäter an Bord haben. Um diesen Strukturwandel deutlich zu konturieren, verfährt die Inszenierung recht lax mit der Chronologie, die ja realiter nicht in der Erschießung Dillingers am 22. Juli 1934 gipfelte (Pretty Boy Floyd etwa wurde erst im Oktober getötet).
Durch den Umstand aber, dass Mann den Strukturwandel bzw. die Modernisierung ins Zentrum seiner Narration rückt, wird sein Film gewissermaßen zu einem Spätwestern, der an die Genre-Klassiker von Sam Peckinpah anschließt. Während die Gangster auf dem Land immer noch eine Fluchtmöglichkeit auftun, ist es kein Zufall, dass es Dillinger schließlich auf offener Straße in Chicago „erwischt“. Da man andererseits aber immer wieder Einstellungen, Szenen oder Locations aus anderen Genre-Klassikern wie „Bonnie und Clyde“
(fd 15 130), „Die Unbestechlichen“
(fd 19 971) oder die dynamischen Shootouts aus „Heat“ wiederzuerkennen glaubt (von klassischen Polizeifilmen wie „The FBI-Story“ oder Klassikern wie „The Public Enemy“ einmal abgesehen), schafft Michael Mann ein sehr stilisiertes, aber auch sehr lockeres Deja-Vu-Gewebe aus Pop-Mythen, die um die „Crime Wave“ von 1933/34 angesiedelt sind: Dazu gehört der urbane Jazz (mit achronologischen Verweisen auf Billie Holliday und einem Cameo-Auftritt von Diana Krall als Sängerin in einem Club), der den Country Blues ablöst, dazu gehört aber auch die von Melvin Purvis inspirierte Comic-Figur des Dick Tracy, die im ausdruckslos-maskenhaften Spiel von Christian Bale präfiguriert erscheint.
Indem Mann dieser Logik eines kreativen Spiels mit den medialen Zeichen folgt, widmet er sich auch dem Wechselspiel zwischen dem Selbstentwurf als Gangster und der Mode der Gangsterfilme zu Beginn der 1930er-Jahre. So nervt Babyface Nelson die Gäste in der Little Bohemia Lodge mit seinen überzogenen James-Cagney-Darbietungen (vielleicht auch als Verweis auf Altmans Chandler-Hommage „Der Tod kennt keine Wiederkehr“, fd 18 592), oder sieht sich Dillinger im Kino W.S. Van Dykes „Manhattan Melodrama“ an und delektiert sich an den kernigen Onelinern des von Gable gespielten coolen Gangsters.
Es gibt, für Fans des Genres und von Michael Mann allemal, vieles zu entdecken, wenngleich das Zentrum dieser Bricolage überraschend leer und unentschieden bleibt. Doch selbst diese leere Mitte spiegelt sich im zurückgenommenen, vielleicht sogar uninspirierten Spiel der Hauptdarsteller, die sich an einer überdeterminierten Ikonizität (Johnny Depp plus John Dillinger; Christian Bale plus Melvin Purvis plus Dick Tracy) überheben. So reich und ambitioniert „Public Enemies“ sich im Mainstreamangebot dieses Sommers auch ausnimmt, bleibt er im Œuvre Michael Manns neben Filmen wie „Der Einzelgänger“
(fd 23 170), „Blutmond“
(fd 26 032), „Heat“ oder „Collateral“, nur ein Nebenwerk, eine Materialschlacht ohne viel Substanz.