Eine erfolgreiche Autorin und angehende Politikerin besucht das Haus ihrer verstorbenen Mutter, in dem jetzt ihre Schwester mit ihrer Familie lebt. Das Wiedersehen fördert zahlreiche Spannungen zu Tage, die durch Dreharbeiten zu einer Dokumentation zusätzlich anheizt werden. Plansequenzen sowie Bildgestaltung verweisen auf eine gewisse Nähe zum Theater, wobei die Erkenntnisprozesse der Figuren in raffinierten, leichtfüßigen Dialogen daherkommen. Über das klassische Familiendrama hinaus werden ebenso humorvoll wie intelligent durch Geschlecht und ethnische Herkunft geprägte Beziehungsmuster hinterfragt.
- Sehenswert ab 14.
Erzähl mir was vom Regen
Tragikomödie | Frankreich 2008 | 99 Minuten
Regie: Agnès Jaoui
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Filmdaten
- Originaltitel
- PARLEZ-MOI DE LA PLUIE
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Les Films A4/France 2 Cinéma/Studio Canal
- Regie
- Agnès Jaoui
- Buch
- Jean-Pierre Bacri · Agnès Jaoui
- Kamera
- David Quesemand
- Schnitt
- François Gédigier
- Darsteller
- Agnès Jaoui (Agathe Villanova) · Jean-Pierre Bacri (Michel Ronsard) · Pascale Arbillot (Florence) · Florence Loiret (Aurélie) · Jamel Debbouze (Karim)
- Länge
- 99 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
„Parlez-moi de la pluie et non pas du beau temps“, Erzähl’ mir was vom Regen und nicht vom schönen Wetter: diese Zeile von George Brassens, dem Meister des französischen Chansons, stand Pate für den neuen Film von Agnès Jaoui. Aprilschauer und Krisen brechen über die Protagonisten herein und lassen sie allein im Regen stehen, allen voran die erfolgreiche Autorin Agathe Villanova. Agathe wird von der 44-jährigen Regisseurin selbst gespielt, „latent gereizt, aber höflich“, wie Jaoui einmal beschrieben wurde und wie sie ihre Protagonistin jetzt darstellt. Weil Agathe eine Wahlkampfrede in ihrer alten Heimat halten soll, fährt sie zum Haus ihrer verstorbenen Mutter, in dem jetzt ihre Schwester Florence mit ihrer Familie lebt. Die Schwester ist unglücklich verheiratet, ihr Mann ein Opfer der Wirtschaftskrise; mit dem abgehalfterten Regisseur Michel (Jean-Pierre Bacri, Jaouis Mann, mit dem sie als Drehbuchautoren-Paar schon zahlreiche Projekte realisiert hat) hat sie eine Affäre. Karim, der Sohn der nordafrikanischen Haushälterin der Familie, ist mit Michel befreundet und bringt diesen auf die Idee, eine Dokumentation über Agathe zu drehen. Man kennt sich also seit langem über ethnische und Klassen-Grenzen hinweg, und – der Regen macht es möglich – die Geschichten nehmen als Tragikomödie ihren Lauf.
Der Film schreibt, anders als es das familiäre Setting vermuten ließe, keine Fortsetzung der endlosen französisch-bürgerlichen Familiengeschichten, sondern Jaoui schlägt inhaltlich wie ästhetisch neue Wege ein. Die Plansequenzen, der weitgehende Verzicht auf Nahaufnahmen, die Tatsache, dass die meisten Einstellungen immer mehrere Personen gleichzeitig ins Bild setzen, verweisen auf eine gewisse Nähe zum Theater, was Jaouis eigenwilligen Stil generell auszeichnet. Ihre Dialoge sind merkwürdige Schnittstellen zwischen Woody Allen und Marivaux: ein leichtfüßiges, salonhaftes Plaudern, dessen Themen (Liebe, Lügen, Gewalt) gelegentlich tragische Momente zeitigen.
Manchmal ungewollt oder komisch, zwingen Karim, Michel und Agathe sich und alle anderen dazu, herkömmliche Wahrheiten über ihre Beziehungen und ihren Platz im Leben hinter sich zu lassen. Karim, großartig verkörpert von Jamel Debbouze, bildet dabei das emotionale Epizentrum – wenn er beispielsweise Agathe mit der Ignoranz und Herzlosigkeit konfrontiert, mit der sie seine Mutter und auch ihn behandelt. Als Politikerin stellt Agathe, offiziell und beruflich sozusagen, Unterdrückungsverhältnisse in Frage. Privat hingegen ist sie blind für die Zusammenhänge. Obwohl die Haushälterin sich wie eine Mutter um die Schwestern gesorgt hat, würde Agathe die alte Frau einfach auf die Straße setzen, wenn der Verkauf ihres Elternhauses anstünde. Und Karim hat sie einen Job bei einem „Freund“ besorgt, der ihn „Boy“ ruft. Rassismus, Sexismus und Klassenunterschiede sind denn auch die Strukturen, die die Beteiligten mit sich selbst und untereinander verhandeln, immer getragen von der Sehnsucht nach einem Miteinander, das sie trotz allem noch verbindet.
Seine eigentliche Perspektive aber erhält der Film durch den Feminismus, an dem viele, gerade junge Frauen kein Interesse mehr haben. Jaouis gute Nachricht ist indes, dass der Feminismus lebt: gelegentlich noch mit befreiender Wirkung, ironisch gebrochen oder als Sündenbock, aber stets präsent in unser aller Leben. Davon ist der Film in all seinen Erzählsträngen durchdrungen, etwa wenn Karims Mutter ihren tyrannischen Mann verlässt, Agathe angesichts von lediglich 18 Prozent weiblicher Delegierter in der französischen Nationalversammlung eine Frauenquote für eine prima Sache hält – oder Michel eine angeblich frauenfreundliche Sorgerechtsregelung dafür verantwortlich macht, dass er seinen Sohn nur zwei Mal im Monat sieht.
Die Häme, die Jaouis Film in Frankreich auf sich gezogen hat, ist nur im Hinblick auf seine Gender-Politik erklärbar. Denn wenn etwa Schafe blöken, als Agathe ansetzt, über ihre Ansichten zu dozieren, oder dem stümpferhaften Michel in diesem Moment auch noch der Strom für die Kamera ausgeht, sind das vielleicht keine Höhepunkte komödiantischen Schaffens. Doch der Humor, die Intelligenz und der Optimismus des Films, mit denen sich am Schluss alle Figuren ihrer individuellen Verantwortung stellen, heben „Erzähl mir was vom Regen“ aus dem Gros vergleichbarer Werke heraus und machen ihn zu einer französischen Variante des Films im Obama-Zeitalter: ein politischer Film, der sich durch seine psychologische Treffsicherheit und große Unterhaltsamkeit auszeichnet.
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