Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 legitimierte der turkmenische Diktator Saparmurat Nijasow seine Macht mit dem von ihm verfassten pseudo-religiösen Lehrwerk "Ruhnama". Um ihre wirtschaftlichen Kontakte in das rohstoffreiche Land zu verbessern, finanzierten weltweit agierende Unternehmen zahlreiche Übersetzungen des Buchs. Ein faktenreicher, mitunter auch polemischer Dokumentarfilm über die (Doppel-)Moral und Geschäftsprinzipien des globalen Marktes.
- Ab 14.
Ruhnama - Im Schatten des heiligen Buches
Dokumentarfilm | Finnland/Schweiz/Dänemark/Deutschland 2007 | 90 Minuten
Regie: Arto Halonen
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Filmdaten
- Originaltitel
- PYHÄN KIRJAN VARJO | SHADOW OF THE HOLY BOOK
- Produktionsland
- Finnland/Schweiz/Dänemark/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Art Films Prod./Dschoint Ventschr Filmprod./Cosmo Film/Kamoli Film
- Regie
- Arto Halonen
- Buch
- Arto Halonen · Kevin Frazier
- Kamera
- Arto Halonen · Hannu Vitikainen
- Musik
- Timo Peltola
- Schnitt
- Samu Heikkilä
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
Diskussion
Das zentralasiatische Turkmenistan kann ohne größere Definitionsprobleme als Diktatur bezeichnet werden: In der von „Reporter ohne Grenzen“ aufgestellten „Rangliste der Pressefreiheit“ rangierte es 2006, noch vor Nordkorea und Eritrea, auf dem drittletzten Platz; zahlreiche Oppositionelle, darunter auch ehemalige Regierungsangehörige, befinden sich in Haft oder werden im Exil bedroht. Bis zu seinem Tod im Dezember 2006 regierte der Autokrat Saparmurat Nijasow, Autor des zweibändigen Buches „Ruhnama“, in dem der auf Lebenszeit selbsternannte Präsident seinen Machtanspruch mit einer Mischung aus spiritueller Heilslehre, Führerkult und Nationalismus legitimierte. Bis heute fungiert es als Anleitung für das soziale Miteinander mit Lehrbuchcharakter. Zwar ist die Bevölkerung arm, die Arbeitslosigkeit bei 60 Prozent, doch das Land ist reich an Bodenschätzen, vor allem Gas und Erdöl. Grund genug für viele multinationale Großkonzerne, sich mit dem Regime gutzustellen. Mit Hilfe von Bauunternehmen wie der türkischen Çalik-Holding oder dem französischen Bouygues-Konzern entstanden in der Hauptstadt Asgabat zahlreiche eklektizistische Prachtbauten, andere Konzerne wie etwa Siemens halfen bei der Ausrüstung mit Überwachungstechnik. Der Schlüssel zum Erfolg: eine Übersetzung der „Ruhnama“.
Was zunächst wie die Beschreibung eines pittoresken Königreiches aus der Märchenfibel klingt, ist bitterer Ernst. Der finnische Dokumentarfilmer Arto Halonen, der sich in der Vergangenheit des öfteren mit dem zwiespältigen Asien-Engagement weltumspannender Firmen auseinandergesetzt hat, und der Rechtsanwalt Stephen Frazier werfen mit „Ruhnama – Im Schatten des Heiligen Buches“ faktenreich Schlaglichter auf die politische Gegenwart Turkmenistans. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der (Doppel-)Moral der Großkonzerne, die, um wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen, Übersetzungen der „Ruhnama“ finanzierten, deren Zitate in der offiziösen Lesart dem Koran gleichgestellt werden. So erschien das Buch von Nijasow, dem „Vater der Turkmenen“, inzwischen in fast vierzig Sprachen – was die Macht des Diktators jedes Mal aufs Neue festigte.
Bei ihrer Recherche scheitern Halonen und Frazier freilich immer wieder an der Ablehnung durch die Pressestellen der beteiligten Firmen. Ihre Jagd nach Informationen, das „direct cinema“ in den Vorräumen der Wirtschaftsmächtigen und den Warteschleifen ihrer Telefonzentralen, erinnert an Michael Moores „Roger and Me“ (fd 28254), die Bilder von den Protzbauten Turkmenistans und die Zitate aus der „Ruhnama“ an Andrzej Fidyks bitter-ironischen „Die Parade“, eines Dokumentarfilm-Klassikers, mit dem der polnische Dokumentarist 1989 das nordkoreanische Kim-Il sung-Regime bloß stellte. Von diesen beiden übernahmen Halonen und Frazier auch die Polemik: aus der Betroffenheitsperspektive wurde an so manchem Detail gefeilt. So geben die beiden Macher des Films am Ende zu, dass die eingeblendeten „Zitatpassagen“ aus dem turkmenischen Fernsehen zwar auf „Informationen der offiziellen Nachrichtenagentur Turkmenistans“ beruhen, aber „nachträglich inszeniert“ wurden. Trotz des Verständnisses für den Frust der Filmemacher, deren Nachforschungen immer wieder abgeblockt wurden, verspielen sie mit solchen Methoden fahrlässig einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit, weil die behutsam aufgebaute Argumentationskette löchrig wird.
Das letzte Drittel beschäftigt sich mit den Ängsten, Hoffnungen und der gesellschaftlichen Stagnation, seitdem der derzeitige Präsident Gurbanguly Berdimuhammedow 2007 die Macht an sich riss, indem er den per Verfassung vorgesehenen Nachfolger Nijasows verhaften ließ. Seitdem ist die kulturelle Isolation des Landes etwas aufgeweicht – immerhin gab es 2008 ein internationales Filmfestival und eine amerikanische Filmreihe, während zum Zeitpunkt von Halonens und Fraziers Recherchen noch eine Art cineastisches Bildertabu über dem Land hing. Sehenswert wird „Ruhnama – Im Schatten des Heiligen Buches“ durch seine Innenansichten aus Turkmenistan – zweimal gelang den Filmemachern nach längerem bürokratischen Hickhack die Einreise – und die Statements, die führenden Unternehmern dann doch abgetrotzt werden. „Geschäft ist Geschäft, und Menschenrechte sind Menschenrechte“, bringt der Manager einer tschechischen Firma den Handel mit der Diktatur auf den Punkt, während ein Vertreter des finnischen Elektrokonzerns Ensto das inzwischen aufgrund ethnischer Bedenken abgebrochene Turkmenistan-Engagement nachträglich als „Fehler“ bezeichnet. Währenddessen soll Berdimuhammedow in Asgabat an einem eigenen Buch schreiben.
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