Dokumentation über eine ehemalige "Kommunalka", eine Gemeinschaftswohnung in St. Petersburg, deren vier Eigentümer versuchen, die Immobilie mit Hilfe zweier Maklerinnen möglichst gewinnbringend zu verkaufen. Der erhellende Film erforscht mit einer beweglichen Handkamera kunstvoll die Wohnung und kommt mit den Bewohnern in teilweise verblüffend offenherzigen Kontakt. Dabei werden bizarr anmutende Einblicke nicht nur in den postsowjetischen Wohnungsmarkt, sondern auch in die Lebenswelt des heutigen Russlands vermittelt. (im Kino O.m.d.U.)
- Ab 14.
pereSTROIKA
Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 88 Minuten
Regie: Christiane Büchner
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Büchner Filmprod./WDR/MDR
- Regie
- Christiane Büchner
- Buch
- Christiane Büchner
- Kamera
- Irina Uralskaja · Anatoli Petriga
- Musik
- Dietmar Bonnen · Andreas Schilling
- Schnitt
- Gesa Marten
- Länge
- 88 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
Heimkino
Diskussion
Der von Michail Gorbatschow geprägte Begriff „Perestroika“ für die Umgestaltung der sowjetrussischen Gesellschaft lässt sich mit „Umbau“ übersetzen. Die Filmemacherin Christiane Büchner nimmt das in ihrer Dokumentation „pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung“ ganz wörtlich und demonstriert den längst nicht abgeschlossenen Gesellschaftswandel am Umbau einer ehemaligen Gemeinschaftswohnung in St. Petersburg – oder genauer: am langwierigen, schwierigen Verkauf, der diesem Umbau vorausgeht. Etwa 700.000 Menschen leben derzeit in St. Petersburg in sogenannten „Kommunalkas“, während Büchners Dreharbeiten (2006/2007) dürften es noch mehr gewesen sein. Diese Gemeinschaftswohnungen entstanden, als der staatliche Wohnraum verteilt wurde und nicht jedem eine Wohnung, sondern vielen nur ein Zimmer in einer Wohnung zugewiesen wurde. Nach dem Ende des Kommunismus erhielten die Bewohner die Eigentumsrechte für ihre Zimmer, sodass sich unzählige Wohnungen in Eigentümergemeinschaften verwandelten. Ein Verkauf einer solchen Kommunalka ist meist nur dann möglich, wenn alle Eigentümer sich gemeinsam zu diesem Schritt entschließen.
Büchner hat für ihren Film vier verkaufswillige Parteien einer Kommunalka gefunden. Drei von ihnen wohnen selbst in der Vierzimmerwohnung, die sie mit Hilfe der beiden Maklerinnen Natascha und Rimma möglichst gewinnbringend auf den Markt bringen wollen. Da ist die Familie Jaroschenja, die sich zu dritt ein Zimmer teilt, am längsten in der Wohnung lebt und sich entsprechende Vorrechte gesichert hat: Familienvater Valeri, ein ehemaliger Tschetschenienkämpfer, ist Herr über Telefon und Klingel. Die alleinstehende Maklerin Tatjana hat schon mehrfach vergeblich versucht, die Wohnung zu verkaufen, in der sie selbst ein kleines Zimmer bewohnt, das sie sich nach den Vorgaben des Feng Shui eingerichtet hat. Jetzt wurde eine außenstehende Agentur mit dem Verkauf betraut. Vadim hält sich nur gelegentlich in seinem Zimmer auf, wenn er sich ungestört mit einer Frau treffen möchte. Die meiste Zeit über wohnt der Mittdreißiger noch zu Hause bei seiner Mutter, auf nicht weniger beengtem Raum. Die vierte Partei wird schließlich von Ira Rekut repräsentiert, die ihr Zimmer an die alleinerziehende Mutter Marina vermietet hat. Ira ist es, die den Verkauf der Wohnung in Gang bringt, weil sie ihr Zimmer endlich loswerden möchte.
Büchners Film begleitet die beiden Maklerinnen bei ihrer Arbeit und dokumentiert heimliche Absprachen, Intrigen und Lästereien innerhalb der unfreiwilligen Wohngemeinschaft (keine der vier Parteien war je im Zimmer eines Mitbewohners) auf derart unverblümte Weise, dass man sich als Zuschauer über die rücksichtslose Offenheit der Protagonisten zumindest wundert. Was wohl passiert, wenn Ira, Vadim und Tatjana erfahren, dass den Jaroschenjas vom Maklerbüro hinter dem Rücken der anderen 10.000 Dollars zugeschustert wurden, um den Verkauf zu beschleunigen? Trotz solcher Schachereien, dem perfiden „Gute Maklerin, böse Maklerin“-Spiel der beiden eigentlich sympathischen Geschäftsfrauen Natascha und Rimma zieht sich der Verkauf endlos in die Länge, weil für die Jaroschenjas und für Vadim erst neue, bessere Zimmer gefunden werden müssen. Die Nerven aller Beteiligten werden dabei zusehends strapaziert. Am Ende entstehen mehrere komplizierte Verkaufsketten, bei denen jeweils eine Partei in ein Zimmer zieht, dessen Eigentümer wiederum in ein anderes Zimmer ziehen, dessen Eigentümer wiederum in eine neue Wohnung ziehen, deren Eigentümer schließlich ausgezahlt werden. Im dramatischen Showdown dieses ungewöhnlich spannenden Dokumentarfilms droht das ganze fragile Gebilde dann aufgrund eines Kleckses in Vadims Pass zusammenzubrechen.
Mit einfachen Mitteln und auf engsten Raum komprimiert, liefert „pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung“ erhellende Einblicke in den postsowjetischen Wohnungsmarkt, aber vor allem auch in die Lebenswelt des heutigen Russlands. Die geringe Bewegungsfreiheit, die der Filmcrew in der engen, dunklen Wohnung zur Verfügung steht, nutzen Büchner und ihr Team wie ein von den äußeren Umständen erzwungenes „Dogma“ zu einfallsreichen, kunstvollen Aufnahmen durch Türen und Fenster hindurch, an Möbeln vorbei und mit einer intimen, beweglichen, aber nie hektischen Handkamera. Es gelingt ihnen zwar nur selten, den Fernsehblick zum Kinopanorama zu weiten. Ironisch untermalt von einer fröhlichen Musik, entsteht dennoch ein überzeugendes, oftmals grotesk anmutendes, aber zurückhaltend erzähltes und nie böswilliges Stück aus dem bizarren Buch der Wirklichkeit: höchst unterhaltsam, lehrreich, komisch und kein bisschen langweilig.
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