Eine luxemburgische Stahlstadt im Jahr 1962: Ein zwölfjähriger Junge wächst im Spannungsfeld von unverarbeiteter (Kriegs-)Vergangenheit und der Neugier auf eine Freiheit verheißende Zukunft auf. Im Zentrum des episodisch angelegten Films, in dem viele Figuren Platz finden, ohne die Handlung voranzutreiben, steht das Verhältnis des Kindes zu seinem strengen Vater, dessen mitunter überharte Erziehungsmaßnahmen weniger von Grausamkeit zeugen, als dass sie die erschreckende Normalität der damaligen Zeit aufzeigen.
- Ab 12.
Kleine Geheimnisse
Drama | Luxemburg/Österreich 2006 | 90 Minuten
Regie: Pol Cruchten
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Filmdaten
- Originaltitel
- PERL ODER PICA | KLEINE GEHEIMNISSE
- Produktionsland
- Luxemburg/Österreich
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Red Lion Film/Amour Fou Filmprod.
- Regie
- Pol Cruchten
- Buch
- Viviane Thill · François Dupeyron
- Kamera
- Jerzy Palacz
- Musik
- Angélique Nachon · Jean-Claude Nachon
- Schnitt
- Thomas Woschitz
- Darsteller
- Ben Hoscheit (Norbi) · André Jung (Vater) · Nicole Max (Mutter) · Anouk Wagener (Josette) · Luc Feit (Herr Treines)
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 12.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Die luxemburgische Stahlstadt Esch sur Alzette im Jahr 1962. Der Zweite Weltkrieg und die Besetzung Luxemburgs durch die Nazis sind zwar schon Jahre vorbei, doch für den fast zwölfjährigen Norbi sind die vielen angerissenen, nicht ausgesprochenen und verdrängten Geschichten aus dieser Zeit fast stärker präsent als der Kalte Krieg, der sich in einer diffus beunruhigten Atmosphäre niederschlägt. „Kleine Geheimnisse“ beschreibt eine Zeit des Umbruchs: Auf der einen Seite gibt es die unaufgearbeitete Vergangenheit, das Reden hinter vorgehaltener Hand über vermeintliche Nazi-Kollaborateure, so genannte Gelbhemden, ein Festhalten an Autoritäten (Eltern, Schule, Kirche), auf der anderen Seite aber den Blick nach vorn, in eine Zukunft, die vor allem von der amerikanischen Populärkultur bestimmt ist: Rock’n’Roll und Comics, das Versprechen auf Freiheit und ein Leben ohne die Schwere der Vergangenheit. Auch Norbi, aus dessen Perspektive der Film erzählt ist, steht an einem Übergang, denn er ist ein Kind, das gerade dabei ist, ein Teenager zu werden. So interessiert er sich insbesondere für ein kirchlich autorisiertes Aufklärungsbuch, das der Vater in einer Schublade verborgen hält, und schleicht heimlich in ein Erotikkino; gleichzeitig aber ist sein größtes Problem, dass er immer noch Bettnässer ist.
„Kleine Geheimnisse“ spannt keinen großen erzählerischen Bogen, sondern berichtet eher episodisch aus Norbis Leben – ganz so, als würde die Erzählung einem Tagebuch folgen, das mal kontinuierlich einen Faden verfolgt, dann aber wieder größere Lücken lässt. Konflikte werden erzählt, ohne dramatisiert zu werden, Figuren treten auf, ohne dass sie die Handlung weitertreiben. So gibt es einen fast slapstickhaften Auftritt zweier Nonnen im Papier- und Spielwarenladen von Norbis Vater; andere Figuren tauchen dagegen immer wieder auf, etwa der verhasste Lehrer Treines, der in seinem Sadismus fast karikierend überzeichnet ist, Herr Meyer, ein Rasputin-artiger Wunderheiler, der Norbis Inkontinenz Abhilfe verschaffen soll, oder auch der Sohn eines angeblichen Nazi-Kollaborateurs, der in Norbi immer wieder die tabuisierte Zeit der Besetzung aufleben lässt. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn steht jedoch eindeutig im Mittelpunkt und ist für einen Kinderfilm erstaunlich ambivalent gezeichnet. Der Vater beantwortet Zuspätkommen, Ungehorsam, aber auch das Lesen von Comic-Strips mit harten Schlägen, da diese Form der „Schundliteratur“ die Vorstellung des Bösen anrege, was nichts anderes ist als die Aufforderung zur Masturbation. Trotz seiner verklemmten Moralvorstellungen und der wiederholt eingesetzten Gerte wird die Figur des Vaters jedoch nicht dämonisiert, sondern auch in anderen, liebevollen und gelösten Momenten mit seinem Sohn gezeigt, was seine Erziehungsmethoden nicht als Grausamkeit, sondern vielmehr als erschreckende Normalität der damaligen Zeit aufzeigt. In ihrer Hilflosigkeit geradezu erschütternd ist eine Szene, in der die Eltern Norbi am Morgen seines zwölften Geburtstags eine Lektion in Sexualaufklärung erteilen. Am Schluss aber hebt Norbi das starre Gerüst aus Verdrängung und Unterdrückung ein Stück weit aus den Angeln. Er befreit die Phantome der Vergangenheit aus ihrem Käfig und bewirkt damit weit mehr als beabsichtigt.
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