Autistic Disco

Drama | Deutschland 2007 | 80 Minuten

Regie: Hans Steinbichler

Eine Resozialisierungsmaßnahme führt straffällig gewordene Jugendliche auf eine Alm in den Berchtesgadener Alpen. Das sozialpädagogische Projekt in der imposanten Naturkulisse fruchtet wenig, weil die Ichbezogenheit der Jugendlichen nicht aufgebrochen werden kann. Die Studie besticht durch den klaren Blick auf die Sozialproblematik und formuliert mit überzeugenden Laiendarstellern Kritik an naiven Erziehungsmethoden einer 1968er-Pädagogik. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Tatami Film
Regie
Hans Steinbichler
Buch
Melanie Rhode
Kamera
Bella Halben
Musik
Anton Gross
Darsteller
Benjamin Bieber · Samia Muriel Chancrin · Anne Grabowski · Kirsten Potthoff · Andreas Meyer
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Mit diesem irregeleiteten Psychodrama verteidigt Hans Steinbichler nach „Hierankl“ (fd 36218) und „Winterreise“ (fd 37919) seinen Ruf als Meister der Amokkunst aufs Schönste. Mit reichlich Pubertätsdonner und der Lizenz zur Irritation schickt er eine Gruppe traumatisierter Psychiatrie-Kids zur Resozialisierung auf eine Alm in den Berchtesgadener Alpen. Dort sollen sie durch die Schönheit der Natur besänftigt werden und unter Anleitung einer selbstherrlichen Sozialpädagogin und eines verschlossenen Försters die Vorzüge der Gemeinschaft kennen lernen. Aus dem hehren Kopfprojekt wird nichts, denn die so widerspenstigen wie verletzlichen Nachwuchspsychopathen überbieten sich in Sabotage und Stärkeritualen. Nach und nach erfährt man von den Vergehen, die sie in ihre unerquickliche Lage gebracht haben. Essstörungen und Selbstmordgefährdung muten da eher harmlos an. Einige haben gemordet, mit Absicht oder aus einem Impuls heraus. Kommunikationsgestört und selbstzentriert sind sie alle. Es wird gebrüllt, geflucht und geschlagen, ausgeteilt und eingesteckt. An diesen Exzessen „schlechten Benehmens“ ändert auch vereinzelte Pärchenbildung wenig, denn Nähe halten diese tragischen Außenseiter ebenso wenig aus wie Hilfsangebote. So gerät die Naturidylle, die Kamerafrau Bella Halben im Rhythmus der Eskalation meisterlich in Szene setzt, zur Albtraumkulisse, und die Jugendlichen irren durch die Landschaft wie ein freigesetztes Wolfsrudel. Die unheimliche Musik zieht alle Register, um die Atmosphäre latenter Gefahr zu suggerieren. Blut fließt dennoch nicht, das ist gar nicht nötig: Blicke und Worte können bekanntlich auch töten. Wie die sehr guten jungen Darsteller der schauspielerischen Zumutung minutenlangen Starrens und verlangsamter unnatürlicher Bewegungen standhalten, ist bewundernswert. Steinbichler gelingt inszenatorisch eine Sehgewohnheiten provozierende Gratwanderung zwischen künstlich wirkender Theaterästhetik, Horrorfilm à la „Blair Witch Project“ (fd 33983) und seelischem Kriegsfilm, die es in ihrer fragmentierten Erzählwucht erst auszuhalten gilt. Zuzusehen, wie die Gewissheiten in dem Gesicht der innerlich mit eigenen Dämonen kämpfenden Pädagogin bröckeln, gehört noch zum Erträglichsten dieses seltsam hybriden Höllentrips. Niemand bemerkt ihren seelischen Zerfallsprozess; das eigene Leid ist jedem am nächsten. „Autistic Disco“ ist das erste Drehbuch von Melanie Rhode. Von der Darstellerin in „Marienhof“ bis zur Drehbuchautorin dieses weltschmerzerfüllten Stoffes ist es ein langer Weg. Vielleicht waren das Politikstudium in Paris und Theaterjobs bei Ostermeier und Castorf hilfreich. Ein bitteres, hoffnungsloses Jugendporträt verstümmelter Beziehungen, denen mit lächerlich naiven Erziehungsmethoden der 68er-Pädagogik nicht beizukommen ist. Steinbichler reichert es mit genug musikalischen Brüchen, verfremdenden Effekten und einer sich hermetisch verweigernden Kauzigkeit an, um ähnlich wie Lars von Trier so lange in der Wunde zu wühlen, bis jeder Widerstand gebrochen ist. Zwei große Talente, von denen noch einiges zu erwarten ist.
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