Als die Rote Armee im April 1945 Berlin eroberte, hielt eine anonyme Autorin das, was ihr in dieser Zeit widerfuhr, aber auch ihre Beobachtungen und Reflexionen in tagebuchartigen Aufzeichnungen fest, darunter die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen jeden Alters. Die ambitionierte Verfilmung dieses einzigartigen Zeitdokuments greift den lakonischen Stil der Vorlage auf und belässt es vor allem in der Darstellung sexueller Gewalt bei Andeutungen. Dabei erliegt der Film schnell dem Zwang von Genrekonventionen und walzt den Versuch der (hervorragend gespielten) Protagonistin, sich einen hochrangigen Offizier als Schutz vor der Meute zu angeln, melodramatisch aus, was zu allzu vertrauten Klischees und Bildern führt.
- Ab 16.
Anonyma - Eine Frau in Berlin
- | Deutschland/Polen 2008 | 131 (TV 170) Minuten
Regie: Max Färberböck
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland/Polen
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Constantin Film/ZDF/Tempus
- Regie
- Max Färberböck
- Buch
- Max Färberböck
- Kamera
- Benedict Neuenfels
- Musik
- Zbigniew Preisner
- Schnitt
- Ewa J. Lind
- Darsteller
- Nina Hoss (Anonyma) · Jewgeni Sidikhin (Andrej) · Irm Hermann (Witwe) · Rüdiger Vogler (Eckhart) · Ulrike Krumbiegel (Ilse Hoch)
- Länge
- 131 (TV 170) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Als im Frühjahr 2003 in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ die Tagebuchaufzeichnungen „Eine Frau in Berlin“ erschienen, verlangte eine Rezensentin ultimativ: „Wer das Alphabet gelernt hat, darf und muss es jetzt lesen“. Diesem Appell ist wenig hinzuzufügen. Die schonungslosen Notizen einer anonymen Autorin sind ein einzigartiges Dokument. Ohne jede Spur von Selbstmitleid hält die Verfasserin darin fest, was ihr von April bis Juni 1945 in Berlin widerfuhr, als die Rote Armee die Herrschaft übernahm. Dabei geht es nicht allein um „Schändung“, die massenhaften Vergewaltigungen durch Rotarmisten, auch wenn sich ihre handschriftlichen Aufzeichnungen als Ganzes wie eine Distanz schaffende Reaktion auf die erlittene sexuelle Gewalt lesen. Die minutiösen Beobachtungen und Reflexionen entwerfen ein authentisches Bild der Besetzung Berlins, in dem die eigenen Überlebensstrategien nicht anders geschildert werden als das Verhalten der Sieger: unsentimental, in einer pointiert nüchternen, gelegentlich auch sarkastischen Sprache. Eine radikale Perspektive auf den Untergang.
Glücklicherweise läuft die Anverwandlung des Stoffes unter der Regie von Max Färberböck nie Gefahr, die eigenwillige Sicht der Augenzeugin aus den Augen zu verlieren. Gemessen am desaströsen Zustand des historischen Genres in Deutschland, dem die jüngere Vergangenheit nur noch ein Steinbruch fürs Triviale ist, nimmt sich diese „Verfilmung“ mitunter sogar ambitioniert aus. Das beginnt noch vor den ersten staubigen Bildern einer vom Krieg zerfressenen Berliner Straße, wenn aus der Tiefe der nachtschwarzen Leinwand ein russisches Wiegenlied erklingt, das vielleicht einem der Soldaten gesungen wurde, der in den nächsten Szenen beim Häuserkampf sein Leben lässt. Ein irritierendes, weil die erwartete Erzählperspektive geradezu konterkarierendes Vorspiel. In einem der Luftschutzkeller ängstigen sich derweil ein Dutzend Frauen und alte Männer, unter ihnen auch die namenlose Ich-Autorin in Gestalt von Nina Hoss, die sich ein paar Brocken Russisch ins Gedächtnis ruft. Zunächst mit Erfolg, was die erste Konfrontation mit einem randalierenden russischen Soldaten entschärft, eine Kellertür weiter aber nicht mehr hilft, weil im Dunkeln zwei Gestalten in eindeutiger Absicht lauern.
„Was heißt Schändung? (...) Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht“, liest man im Eintrag zum 1. Mai. Im Film rafft sich Nina Hoss nach einer Weile auf, schiebt ihre Kleider zurecht und wankt Richtung Treppe. Der knappe, lakonische Stil, in dem das Buch über die Vergewaltigungen spricht, scheint der Inszenierung recht zu geben, es ebenfalls bei Andeutungen zu belassen. Auf drastische Bilder viehischer Vergewaltigungen, wie sie in anderen Zeitdokumenten geschildert werden, braucht man hier nicht zu warten. Das Drehbuch interessiert sich vielmehr für die Reaktion der Anonyma, die kein Freiwild sein, sondern ihre Reduktion aufs Geschlechtliche wenigstens in kontrollierte Kanäle lenken will. „Hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leibe hält.“ Also wagt sie sich unter die ausgehungerten Soldaten und sucht mit ihren Blicken nach einem, der sie vor der gierigen Meute schützen soll. Der Major Andrej, den sie schließlich auftut, ist ein feiner, gebildeter Mann, mit dem sich über Gott und die Welt parlieren lässt; nur wenn die Kriegsverbrechen der Deutschen zur Sprache kommen, bleibt sie stumm.
Und das aus gutem Grund. Denn Anonyma war eine gebildete, vielseitig interessierte Journalistin, deren Identität zwischenzeitlich enthüllt wurde. Was in der Debatte über das Buch 2003 zu Tage trat, dass sie zwar keine Nationalsozialistin, aber eine Sympathisantin und Nutznießerin der neuen Zeit gewesen ist, wird in einem klugen Prolog vorangestellt. Doch so differenziert hier und an anderen Stellen mit vielen Aspekten des Buches auch umgegangen wird, erliegt der Film doch recht schnell dem Zwang der Genrekonventionen. Nuancen in der knappen Schilderung des Majors, für den Anonyma vielleicht mehr als freundschaftliche Gefühle empfand, werden zu einem melodramatischen Plot ausgebaut, dessen verbotene Liebe auf krasse Ablehnung stößt.
Ähnlich ergeht es auch anderen Zwischentönen, die in handfeste dramaturgische Plotpoints umgemünzt werden; mit Rivalitäten innerhalb der Armee, Machtkämpfen und Intrigen. Solche erzählerischen Konventionen, die den Film für seine Auswertung im Fernsehen anschlussfähig halten sollen, sind das Einfallstor für die sattsam bekannten Bilderklischees betrunkener Rotarmisten, verbohrter Sowjet-Ideologen und schmieriger Opportunisten, mit denen man noch den ambitioniertesten Stoff seiner Eigenheiten beraubt. Selbst wenn sich für die abgedroschenste Phrase oder Bildfindung inhaltliche Referenzen in der Vorlage finden ließen, schrammt die Inszenierung als solche doch nur knapp an einer soldatesken Schauermär vorbei. Vor dem kompletten Absturz bewahrt ihn auch die schauspielerische Leistung von Nina Hoss, die das widersprüchliche Innenleben ihrer entschlossenen Protagonistin mimisch bravourös durchschimmern lässt: die Option, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren, war im Bewusstsein der Zeit (noch) nicht vorgesehen.
Was möglich gewesen wäre, wenn sich die Inszenierung konsequenter an der lakonischen Qualität des Textes orientiert hätte, blitzt an zwei Stellen auf. In einem Streit mit dem Major reißt sich Nina Hoss die Bluse vom Leib, um ihre zerschundenen Brüste zu zeigen. Eine Entblößung, die sprachlos macht, weil sie die Reduktion auf Fleisch und Gier im Bild der unvermittelten Nacktheit auf ein existenzielles Ausgesetztsein konzentriert, was auch im übertragenen Sinne frieren macht. In der zweiten Szene stürzt Anonyma gegen Ende des Films in einen großbürgerlichen Salon, um dem Major ihre Liebe zu gestehen. Doch der wurde religiert, stattdessen sitzt rechts sein Gegenspieler hinter einem Schreibtisch an der Wand, und links hinten taucht plötzlich Gerd auf, Anonymas aus dem Krieg heimgekehrter Mann, was dazu führt, dass sie gleichsam im Lauf wie in ihren Gefühlen erstarrt und nicht weiß, wohin sie sich wenden soll. Die desorientierende Raumpoetik dieser Momente sagt mehr über den Verlust gerade wiedergewonnenen Bodens unter den Füßen aus, als alle bemühten Szenen im Anschluss, in denen das Paar um Normalität ringt. Am Ende bleibt man deshalb doch auf das Diktum der Rezensentin verwiesen: Lesen!
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