Lornas Schweigen

Drama | Belgien/Frankreich/Italien/Deutschland 2008 | 109 Minuten

Regie: Jean-Pierre Dardenne

Eine junge Albanerin, die mit Hilfe der russischen Mafia und durch die erkaufte Ehe mit einem Junkie einen belgischen Pass bekommen hat, gerät in einen lebensbedrohlichen Konflikt, als sie ihre Moral und lange verschüttete menschliche Werte wiederentdeckt und damit ihren Mafia-"Freunden" in die Quere kommt. Ein beeindruckender Film, der durch seine authentische Milieustudie an das soziale Gewissen appelliert und in verhaltenen Bildern die Menschwerdung einer jungen, von der Hauptdarstellerin mit großer Präsenz verkörperten Frau beschreibt, die lernt, nicht mehr als Teilchen eines merkantilen Systems zu funktionieren, sondern ihr Leben selbst zu gestalten. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE SILENCE DE LORNA
Produktionsland
Belgien/Frankreich/Italien/Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Les Films du Fleuve/Archipel 35/Lucky Red/Gemini Film
Regie
Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
Buch
Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
Kamera
Alain Marcoen
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Darsteller
Arta Dobroshi (Lorna) · Jérémie Renier (Claudy Moreau) · Fabrizio Rongione (Fabio) · Alban Ukaj (Sokol) · Morgan Marinne
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Alle Pläne sind perfekt vernetzt, die Deals müssen reibungslos ablaufen, die Zeitfenster sind eng und erlauben kaum Flexibilität. Durch ihre von der Mafia arrangierte Ehe mit dem Junkie Claudy hat die Albanerin Lorna die belgische Staatsbürgerschaft bekommen; ihr Traum von einer eigenen Snack-Bar ist ein gutes Stück näher gerückt. Doch Claudy ist bloß eine Zwischenstation, ein Medium, so wie auch Lorna nur ein Medium ist. Ein Russe steht schon an, um sich durch eine Heirat mit Lorna seinerseits die belgische Staatsbürgerschaft zu sichern. Neben Claudy hat Lorna auch noch einen „richtigen“ Freund: Sokol. Der ist allerdings ständig in Europa unterwegs. Macht er in Lüttich Station, gibt er Lorna, was er zuletzt verdient hat, damit der Kredit für die Bar zügig von der Bank gewährt wird. Die Zeit drängt also in jeder Hinsicht, weshalb es mehr als ärgerlich ist, dass Claudy sich ausgerechnet jetzt entschließt, wieder einen Entzug zu wagen. Sein Tod ist eine fixe Größe in den Plänen der Mafia, eine Scheidung zeitlich nicht drin. Lorna hat dieses Spiel bislang mitgemacht und ihre Gefühle auf Eis gelegt. Wenn man ihr im Film zum ersten Mal begegnet, folgt ihr Alltag der kalten Logik des Profits. Sie lebt mit Claudy in einer kleinen Wohnung, die tagsüber, wenn Lorna in einer Wäscherei arbeitet, auf „Ehe getrimmt“ wird, bevor sich abends routiniert die Wege wieder trennen. Lorna hält Claudy auf Distanz, die Kommunikation ist auf ein Minimum beschränkt. So könnte Lornas Perspektive immer aussehen; aus Sicht ihres Mafia-Mittelsmannes Fabio ist Lorna funktional durchaus auf einer Ebene mit Claudy anzusetzen. Sie soll funktionieren, adrett sein und ansonsten den Mund halten. Doch Claudy – ein Häufchen Elend, das verzweifelt um sein Leben, um seine Befreiung von der Sucht kämpft und Hilfe braucht, um etwas wie Handlungsautonomie, Selbstbestimmung und Würde überhaupt wieder in den Blick zu bekommen – rührt an etwas in Lorna. Unvermittelt kommen Gefühle ins Spiel, eher Mitmenschlichkeit und Mitleid als Zuneigung, die allerdings die Geschäfte stören. Lorna will die Scheidung, um Claudy zu retten. Um das Scheidungsprozedere zu beschleunigen, muss Claudy Lorna schlagen. Im Gegenzug will Lorna ihm nach dem Entzug helfen, clean zu bleiben. Sogar der Russe willigt angeblich ein, bis nach der Scheidung zu warten. Doch Claudy ist schwach, will rückfällig werden. Da schläft Lorna mit ihm. Jetzt sind Lorna und Claudy tatsächlich das Paar, das zuvor nur eine Inszenierung war. Die Gangster pochen mit Nachdruck auf die Geschäftsbeziehungen, aber Lorna geht allen Widerständen zum Trotz ihren eigenen Weg. Sie bricht ihr Schweigen, erkundet im Gespräch alternative Handlungsoptionen. Sie streut so Sand ins Getriebe reibungslos verlaufender Tauschprozesse; sie wird unbequem. Der neue Film der Brüder Dardenne („Rosetta“, fd 34825, „L’Enfant“, fd 37333), in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet, zeigt eine prekäre Welt mitten in Europa, die scheinbar allein auf dem Geldfluss basiert. Immer wieder wechseln Geldscheine ihren Besitzer: Junkie und Dealer, Gangster und Gangster, Kunde und Banker. Geld schafft Abhängigkeiten, erfüllt aber auch Träume. Alles läuft wie geschmiert, doch dann ein „authentischer“ Blick im falschen Moment – und die Solidarität, die Humanität meldet sich zurück! Zur Humanität gehört auch eine Moral, und wenn diese Moral erst einmal aktiviert ist, dann gerät eine wohlgeordnete, aber eben fundamental amoralische Existenz schnell aus den Fugen. „Lornas Schweigen“ macht die Konsequenzen dieses moralischen Erwachens an immer neuen, ganz kleinen Entscheidungen präsent. Jeder Twist öffnet neue Handlungsräume, macht neue Entscheidungen notwendig. Dabei ist Lorna alles andere als eine Heldin. Sie hält an ihrem Traum von der Snack-Bar fest, sie würde auch den Russen heiraten, sie will Fabio nicht herausfordern, sie will nur „den Junkie“, den sie jetzt beim Namen nennt, retten. Doch als sie versucht, sozial, das heißt, in mehrere Richtungen gleichzeitig zu denken, um zwischen unterschiedlichen Ansprüchen zu vermitteln, wird ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie machtlos ist. Von ihrem Traum von einer eigenen Existenz bleiben ihr gerade einmal 100 Euro, doch winkt deshalb keine Freiheit innerhalb der Gesellschaft. Lorna, unglaublich präsent gespielt von der Entdeckung Arta Dobroshi, besitzt die innere Kraft, sich eine Moral zu leisten, muss dafür aber die Gesellschaft fliehen. Ob sie nun schwanger ist oder es sich nur einbildet, bleibt zweitrangig, weil dieser Impuls ihr abweichendes Verhalten bestimmt. Selbstverständlich, das zeigt dieser beeindruckend klar und aufs Essenzielle reduzierte Film, ist das nicht; längst nicht mehr.
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