Und wenn sie nicht gestorben sind - dann leben sie noch heute - Die Kinder von Golzow (Teil 3+4)

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 290 Minuten

Regie: Winfried Junge

Der letzte Teil des Langzeitprojekts über „Die Kinder von Golzow“, die seit 1961 mit der Kamera begleitet wurden. Nach 20 Filmen mit rund 44 Stunden Laufzeit verabschieden sich Barbara und Winfried Junge nun mit fünf Biografien, die den Alltag in der ostdeutschen Provinz erkunden, den Einfluss von großer Politik auf das Schicksal des Einzelnen belegen und die Verwandlung eines Dorfs sowie einer Landschaft dokumentieren. Trotz mancher didaktischer Kommentare eine sozial und soziologisch höchst aufschlussreiche Chronik von fast 50 Jahren Zeitgeschichte der DDR und des vereinigten Deutschlands. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
à jour/DEFA Stiftung/RBB
Regie
Winfried Junge · Barbara Junge
Buch
Winfried Junge · Barbara Junge
Kamera
Hans-Eberhard Leupold · Harald Klix · Hans Dumke · Walfried Labuszewski · Wolfgang Randel
Musik
Gerhard Rosenfeld · Kurt Grottke
Schnitt
Barbara Junge
Länge
290 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Nach 20 Filmen mit rund 44 Stunden Laufzeit verabschieden sich Barbara und Winfried Junge von ihrem Lebenswerk, dem Golzow-Projekt, in dem sie insgesamt 18 Biografien von 1961 bis 2007 erzählten. Ausgangspunkt war ein kurzer Dokumentarfilm aus den Tagen kurz nach Beginn des Mauerbaus, „Wenn ich erst zur Schule geh...“, mit Beobachtungen in einer ersten Klasse; deren Schülerinnen und Schüler wurden dann mit der Kamera begleitet. Mittlerweile sind zwei der „Kinder von Golzow“ verstorben, und auch die Haare der anderen inzwischen über 50-Jährigen wurden grauer: Der lange ruhige Fluss des Lebens lässt seine Mündung ins Meer der Ruhe erkennen. Was diese „längste Langzeitdokumentation der Filmgeschichte“, eine sozial und soziologisch aufschlussreiche Chronik der laufenden Ereignisse, ausmacht, wurde oft beschrieben. Die Junges und ihre Kameramänner erkundeten mit nicht nachlassendem Interesse den Alltag der ostdeutschen Provinz: wie die Menschen wohnen, was sie reden, wie sie feiern und leben; wie sich Menschen emanzipieren oder auch nicht; wie Politik ins „gewöhnliche“ Leben eingriff; und auch, wie sich eine Landgemeinde verwandelte: was die Genossenschaft für die Bauern bedeutete, dass ein Kulturhaus entstand und eine neue Kaufhalle, die zwar nicht gerade ein Supermarkt war, aber für das Dorf hinter den sieben Hügeln doch ein Fortschritt. Als die DDR in Agonie lag, ließen die Bilder den Stillstand deutlich werden. Neuen Wind gab es auch für den Film mit der deutschen Einheit und ihren Möglichkeiten, Brüchen und Verwerfungen. Der letzte Teil nun vereint fünf Biografien, die bisher nicht in dieser Ausführlichkeit erzählt wurden. Elke, gelernte Wirtschaftskauffrau und seit Jahren arbeitslos, wird u.a. in der Filmausstellung „Kinder von Golzow“ fotografiert, die in einem Klassenraum der Golzower Schule untergebracht ist und in der sie eine Zeit lang als ABM-Kraft tätig war. Die Geflügelzüchterin Karin, heute als Altenpflegerin tätig, kehrte erstmals nach Jahrzehnten wieder vor die Kamera zurück. Dagegen gelang es nicht, noch einmal mit der ehemaligen Köchin Gudrun, die in der DDR zur Bürgermeisterin avancierte, ins Gespräch zu kommen: Das ihr gewidmete Kapitel basiert auf älterem Material. Dennoch ist es nachzuvollziehen, dass die Junges nicht auf sie verzichten wollten; im Zusammenhang mit ihrer Vita konnten sie erneut auf ihren Vater, den ehemaligen LPG-Vorsitzenden Artur Klitzke, zu sprechen kommen. Beide waren DDR-Bürger mit Leib und Seele. Klitzke engagierte sich wie ein „kleiner König“ für das Dorf und setzte manches auch gegen den Druck von „oben“ durch. Noch nach dem Mauerfall versprachen Vater und Tochter, dass die Junges mit der Kamera wiederkehren können, dann aber blieb die Tür verschlossen. Der Film spekuliert nicht über Gründe dieses Schweigens. Vielleicht lag es an der Scheu, sich auch weiterhin der Öffentlichkeit zu offenbaren? Mit allen Niederlagen, allen bitteren Erfahrungen, politisch und wohl auch privat? Schließlich werden die Landmaschinenschlosser Eckhard und Bernhard vorgestellt: Beider Biografien boten Gelegenheit, über die Metamorphose der ehemaligen LPG zur GmbH, die damit verbundenen Umstellungen und die Gegenwart des Dorfs zu reflektieren. So führt der Film u.a. in die Ukraine, wo der Geschäftsführer der GmbH ein Joint Venture anbahnte. Weil Golzow wegen der EU-Normen rund 1.500 Hektar Boden stilllegen musste, pachtete man dort 4.000 Hektar hinzu und konnte die zu Hause überzählige Technik weiter nutzen. Das alles beschreibt der Film penibel, versehen mit einem nachdenklichen, mitunter ironischen Text. In manchen seiner Fragen wird deutlich, dass Winfried Junge über all die Jahre gern erzieherischen Einfluss auf die Protagonisten ausübte; zugleich lässt der Kommentar erkennen, dass es ihn mitunter heftig ärgerte, wenn der eine oder andere seiner „Helden“ einen Haken schlug und sein Leben eben doch nicht so gestaltete, wie es Junge gern gesehen hätte. Solche didaktischen Töne mag man bemängeln – letztlich aber gehören sie ebenso zum Stil des Golzow-Projekts wie die weitgehend chronikalische Dramaturgie und die oft idyllisch wirkenden kammermusikalischen Melodien von Gerhard Rosenfeld. Auf die wollten die Junges am Ende verzichten, um ihren Film, wie sie sagen, in der Gegenwart ankommen zu lassen. So hören wir über den finalen Flugaufnahmen einen Rap, gesungen von einer heutigen Schulklasse: „Wo die Oder in die weite Ebene fließt, / wo man Ruhe und Natur genießt, / wo Böden schwer und fruchtbar trotz märkischem Sand, / da liegt das Oderbruch, mein Heimatland.“ Das mutet beim ersten Hinhören etwas heimattümelnd an und scheint der Größe des Gesamtprojekts eher unangemessen, vor allem auch gegenüber der im Prolog angeschnittenen, von der Grenznähe zu Polen inspirierten Krieg-Frieden-Problematik; doch hat auch dieser Rap etwas mit jener „Welt im Wassertropfen“ zu tun, die sich in der Golzow-Saga immer wieder offenbarte.
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