Nach einer Gefängnisstrafe zieht sich eine etwa 40-jährige Frau in einen ostdeutschen Provinzort zurück, um dort einen Neuanfang zu wagen. Von zwischenmenschlichem Kontakt schottet sie sich weitgehend ab, bis sich ein pubertierender Junge und dessen verwitweter, redseliger Vater in ihr Leben "drängen". Im Aufeinanderprallen der leidgeprüften Menschen zeichnet sich allmählich die vage Hoffnung auf positive Veränderungen in ihrem Leben ab. Stilles, intensives Drama mit hervorragend gespielten, glaubhaft entwickelten Figuren. Die aus Blicken und Gesten resultierende Spannung leidet auch durch den etwas bemüht symbolträchtigen Umgang mit einzelnen Motiven nicht.
- Ab 14.
Mondkalb
Drama | Deutschland 2007 | 104 Minuten
Regie: Sylke Enders
Kommentieren
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Beaglefilms/RBB/WDR
- Regie
- Sylke Enders
- Buch
- Sylke Enders
- Kamera
- Frank Amann
- Musik
- Bert Wrede
- Schnitt
- Dietmar Kraus
- Darsteller
- Juliane Köhler (Alex Niemann) · Axel Prahl (Piet Hatzky) · Leonard Carow (Tom Hatzky) · Ronald Kukulies (Tobias Wallraff) · Niels Bormann (Mirco)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Als Mondkalb bezeichnete man früher missgestaltete Kälber von Hausrindern, deren Fehlbildungen man sich mit dem angeblich schädlichen Einfluss des Mondes erklärte. Alex, eine groß gewachsene, kurzhaarige Frau Anfang 40 mit betont zurückgenommenem Äußeren, nennt sich selbst einmal abschätzig „Mondkalb“, als sie ein Kinderfoto von sich im Album ihrer verstorbenen Großmutter entdeckt. Was auch immer „schädlichen Einfluss“ auf sie ausgeübt haben mag, Alex erscheint durchaus als „fehlgebildete“ Frau, die das Geheimnis ihres Schicksals lange Zeit streng hütet, während sie, nur mühsam beherrscht und stets um Fassung und Festigkeit ringend, einen Neuanfang in einer ostdeutschen Kleinstadt sucht. Zum dritten Mal nach „Kroko“ (fd 36 379) und „Hab mich lieb!“ (fd 37 312) nähert sich Sylke Enders sensibel und aufmerksam einer Frau, die nach einem konfliktreichen Leben auf der Suche nach Ruhe und Sicherheit ist und sich dabei ein Stück weit selbst im Weg steht. Dies gelingt vor allem dank der Präsenz der großartigen Juliane Köhler: Wie sie mit unterdrückter Nervosität und mit hinter der Fassade deutlich spürbarer Panik das bizarre Einstellungsgespräch mit ihrem neuen Arbeitgeber in einem mittelständischen Chemielabor über sich ergehen lässt, wie sie mit geduckter Körperhaltung durch die Straßen des Provinzorts streicht, bis sie das heruntergekommene Häuschen ihrer Großmutter erreicht, in dem sie sich einigelt – das sind vielsagende, höchste beredte Eindrücke. Ausgerechnet in diesem Häuschen, das sie sich nach Jahren der Abwesenheit als Trutzburg ihres Neuanfangs gewählt hat, wird Alex mit einem Eindringling konfrontiert: Der elfjährige Tom deckt wie ein Heinzelmännchen den Esstisch, ist für Alex aber kein dienstbarer Freund, sondern eine Bedrohung, der sie sich brüsk entgegenstellt. Auch Toms Vater Piet, einem alleinstehenden, redselig-jovialen Fahrlehrer, dessen Frau sich vor vier Jahren erhängte, entzieht sie sich, will keine Nähe, keine Gefühle zulassen. Doch das sagt sich so leicht: Da treffen drei Menschen aufeinander, die sich anziehen und abstoßen, nicht „aus ihrer Haut können“ und doch dringend Halt und Geborgenheit brauchen.
„Mondkalb“ ist ein stilles, intensives Drama um menschliche Befindlichkeiten auf dem schmalen Grat zwischen existenziell notwendigem Selbstschutz und fast zwangsläufig drohender Selbstzerstörung. Am Ende steht, wie auch in Sylke Enders’ früheren Filmen, keine übertriebene Läuterung, sondern lediglich eine behutsam angedeutete, Hoffnung vage signalisierende Veränderung, womit sich um so glaubwürdiger vermittelt, dass die Protagonisten durchaus bereit sind, ihr Leben, ihre Fehler und ihre Schuld doch endlich auf den Prüfstand zu stellen. Dreh- und Angelpunkt bleibt stets Alex, deren Vergangenheit sich in Bruchstücken vermittelt: ihr Gefängnisaufenthalt, nachdem sie gegenüber ihrem Ehemann gewalttätig wurde (der in einer kurzen, eindrücklichen Szene auftaucht, wobei sich eine ganz andere Sichtweise ergibt, die Alex als eigentliches Opfer zu erkennen gibt); ihre Sehnsucht nach der Tochter, die nichts mehr von ihr wissen will, ihr Selbsthass, ihre kanalisierte Wut darüber, dass sie so ist wie sie ist. Aufmerksam registriert die Kamera jede von Alex’ Regungen, wechselt nur gelegentlich die Perspektive, um aus der Distanz den möglichen Blickwinkel des Jungen einzunehmen, der der am wenigsten konturierte Charakter ist, sondern eher als Katalysator in einer emotionalen Versuchsordnung fungiert. Deren zweiter „Probant“ ist der von Axel Prahl nicht minder eindrucksvoll gespielte, zunächst so joviale Piet, ein Mann „der alten Schule“, der bei aller Redseligkeit doch nie seine Befindlichkeit auszudrücken vermag, vor seinen wenigen Ausfällen zurückschreckt und sogar zum Jähzorn und zur Gewalt gegenüber seinem Sohn neigt. Immer wieder scheinen zwischen ihm, Alex und auch Tom Momente der Harmonie und des kurzen Glücks auf, doch auch über solchen Szenen schwebt stets die Angst des Trügerischen. Diese unausgesprochene Schwebe verleiht dem Film seine Intensität, eine aus Blicken und Gesten resultierende Spannung, in der die vielen angedeuteten Zwischentöne sich auch gegen eine etwas zu symbolschwanger geratene Erzählebene durchsetzen, die nicht nur vom Mondkalb, sondern auch von Vampirfledermäusen und mörderischen Schweinen handelt, die ihre eigenen Nachkommen töten. „Wollen wir uns nicht lieber um die Lebenden kümmern?“, fragt Piet, was ebenso berechtigt wie auch allzu überdeutlich ist. Sylke Enders indes kreist mit verhaltener Dynamik und großer Spannung genau um diese Frage.
Kommentar verfassen