Wahrscheinlich ist es längst Fünf nach Zwölf und die Galgenfrist für die Menschheit unwiderruflich abgelaufen. Die Zeit wissenschaftlicher Daten und Theorien, mit denen Klimaforscher vier Jahrzehnte lang vor den Folgen der Erderwärmung warnten, ist im Herbst 2007 endgültig ins Stadium schockierender Sichtbarkeit übergegangen: schmelzende Gletscher, ertrinkende Eisbären, kaum noch Packeis in der Baringsee. Dennoch raffen sich die mehr als 50 Wissenschaftler am Ende von „11th Hour – 5 vor 12“ zu dem eindringlichen Plädoyer auf, die winzigen Chancen, der drohenden Katastrophe doch noch zu entgehen, nicht auch noch aus Fatalismus oder Hoffnungslosigkeit verstreichen zu lassen. Ihre Botschaft ist klar: Hier! Jetzt! Jeder! Und zwar nicht nur mit Blick auf die Reduktion von Treibhausgasen, sondern als fundamentales Plädoyer einer nachhaltigen Lebensweise – wozu auch der ambitionierte Dokumentarfilm beitragen will, der sich mit der Figur von Leonardo DiCaprio schmückt, um seiner Botschaft eine höhere Massenkompatibilität zu ermöglichen.
DiCaprios Zwischenmoderationen in Form direkter Publikumsansprache fungieren jedoch nicht nur als medialer Eyecatcher, sondern verschaffen dem verbalen Stakkato der Forscher und Experten wohltuende Atempausen, da in den dicht gereihten Einzelinterviews nahezu das komplette aktuelle Wissen über den drohenden Kollaps des Ökosystems ausgebreitet wird. Denn die Dokumentaristinnen Leila Conners Petersen und Nadia Conners begnügen sich nicht mit drastischen Bildern und alarmistischen Thesen, sondern wagen die Quadratur des Kreises: eine ausgreifende Analyse des menschlichen Umgangs mit der Natur als Basis für Überlegungen, wie die Zukunft vielleicht doch noch gerettet werden kann.
Deshalb kommen Evolutionsbiologen und Naturwissenschaftler ebenso zu Wort wie Historiker oder Umweltaktivisten, aber auch Persönlichkeiten wie Michail Gorbatschow oder Stephen Hawking, deren Gedanken und Erkenntnisse immer neue Themen und Querverbindungen ins wuchernde Öko-Puzzle einfügen, das mit jeder Einlassung komplexer, aber auch spannungsgeladener wird. Denn obwohl es im Kern um eine fundierte strukturelle Analyse geht, blitzen gelegentlich aktuelle amerikanische Themen auf, etwa der Krieg ums Öl oder die Verflechtungen vom „Big Oil“ mit der aktuellen US-Regierung.
Vom Anspruch wie von seiner filmischen Umsetzung her aber will „11th Hour – 5 vor 12“ ein „Crash-Kurs“ von der Informationstiefe einer mittleren Unibibliothek sein, was den mentalen Overkill bewusst in Kauf nimmt, da die Website www.11hourfilm.com als integrale Fortsetzung des Films mit anderen Mitteln verstanden wird. Das Erstaunliche daran ist, dass man dem Datensturm aus Statistiken, Fotos, Animationen und Filmaufnahmen insofern mühelos folgen kann, als man die groben Linien nie aus den Augen verliert. Deshalb funktioniert auch der gewagte Dreischritt, nach der Bestandsaufnahme erst ausführlich die Ursachen zu erforschen, ehe man eine umweltverträglichere Zukunft ins Auge fasst, auch wenn dem Film dabei doch spürbar die Puste auszugehen droht – von den Zuschauern ganz zu schweigen. Gerade der Zusammenschau alternativer Techniken und Ansätze für eine umweltfreundlichere Lebensweise hätte man dringend eine geduldigere Betrachtung gewünscht. Denn anscheinend gibt es tatsächlich eine breitgefächerte „grüne“ Wissenschaft, die sich von der „Ursünde“ der technischen Zivilisation, von Eisen und Stahl, abwendet und im Studium natürlicher Prozesse gänzlich neue Verfahren und Bauweisen entdeckt. Über Siedlungen und Städte, die wie Wälder aufgebaut sind oder Häuser, deren Heiz- und Wassersystem der Versorgung von Bäumen abgeschaut ist, würde man gerne mehr erfahren, als die kurzen Simulationen im Zeitraffer zu bieten haben.
So bleibt unterm Strich für jeden wohl eine sehr individuelle Rezeption von „11th Hour – 5 vor 12“, in die sich beispielsweise auch praktische Verhaltenstipps mischen können wie jener, den Ort, an dem man lebt, von Herzen zu lieben. Selten hat man nach einem Kinobesuch die Straßen und Plätze seiner Stadt mit fremderen Augen angeschaut als nach diesem Menetekel des Untergangs.