In seinem zehnten Spielfilm entwirft Ang Lee eine amour fou aus der blutigen Zeit der japanischen Besatzungsherrschaft in China. Mit „Gefahr und Begierde“ präsentiert der in die USA emigrierte Taiwanese damit zum wiederholten Mal einen Stoff, der in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seiner vorangehenden Arbeit ist, wobei er erneut ein ihm fremdes Genre wählt und sich als einer der wandlungsfähigsten Regisseure seiner Generation erweist. Gleichwohl ist „Gefahr und Begierde“ ein genuiner Ang-Lee-Film: ein humanes, zurückhaltendes Kammerspiel, konzentriert auf die Interaktion weniger Figuren, geprägt von einer Rhetorik dezenter Verweise, nur kurz unterbrochen durch pathetisch inszenierte Emotionsausbrüche. Ein Drama über Identitätsverlust und Grenzüberschreitung.
Es beginnt mit einem Gesellschaftsspiel: Vier Frauen sitzen um einen Tisch, trinken Tee und spielen Mahjong. Sie lachen und unterhalten sich. Eine wunderbare Auftaktszene, in der en passant in die Epoche und ihre Verhältnisse eingeführt wird, wobei die Konzentration ganz den Objekten gilt: edlen Mahjong-Steinen, erlesenen Kleidern, Schmuck, gepflegten Fingernägeln. Und den Blicken. All dies ist so exzellent montiert, dass man sofort versteht, ohne es im plumpen Sinne „gezeigt“ zu bekommen: Die jüngere Frau am Tisch hat ein Verhältnis mit dem Ehemann der Gastgeberin. Die Geliebte heißt Wang Jiazhi. Bevor der Film zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, erzählt er, was bereits geschehen ist: Wang gehört zu jenen, die 1937 vor den Truppen des faschistischen Japan ins noch sichere britische Hongkong geflohen sind. Dort beginnt sie zu studieren und in der Theaterklasse Hauptrollen in patriotischen Stücken zu spielen. Aus dieser Gruppe idealistischer Studenten erwächst bald eine Widerstandszelle gegen die Japaner. Man plant ein Attentat auf Yee, einen der führenden Kollaborateure; die schöne Wang soll als Lockvogel dienen. Tatsächlich freundet sie sich unter falscher Identität mit Yees Frau an, doch je besser sie ihre potenziellen Opfer kennenlernt, um so mehr nimmt sie diese als Menschen wahr. Besonders zu dem undurchsichtigen Yee fühlt sie sich mehr und mehr hingezogen. Die Attentatspläne scheitern. Drei Jahre später, inzwischen nach Shanghai übergesiedelt, treffen die Widerständler erneut zusammen. Yee ist inzwischen zum Geheimdienstchef aufgestiegen. Erneut soll der Mordplan realisiert werden, mit Hilfe von Wang in ihrer alten Rolle. Während der Vorbereitungen zu dem Attentat beginnen Wang und Yee aber ein Verhältnis.
In dem elegisch inszenierten Drama nach einem Roman von Eileen Chang zeigt Ang Lee eine doppelte education sentimentale: sexuell, denn Wang, anfangs noch Jungfrau, muss „Erfahrung haben“, um als Verführerin glaubwürdig zu sein, die sie auf Beschluss der Gruppe mit einem der Widerständler sammelt; auf den Sex fürs Vaterland folgt der zweite Verlust der Unschuld in dem leidenschaftlichen Verhältnis mit dem begehrten Hassobjekt Yee. Die erste sexuelle Begegnung zeigt die Inszenierung ausführlich und als von Gewalt durchzogen. Viel ist vorab über die Sexszenen des Films geschrieben worden; doch für den europäischen und asiatischen Film sind die Bilder nicht ungewöhnlich spektakulär. Provozierend dürfte eher der sadomasochistische Charakter des Sex nahe an der Vergewaltigung wirken. Er dient indes dazu, den Charakter Yees deutlich zu machen, der trotz seiner Zivilisiertheit und seines verführerischen Charmes ein skrupelloser Folterer ist. Diese Charakterdisposition ist ein Thema des Films. Ang Lee ist klug genug, zuvor auch Wangs eigenes Verhältnis zur Gewalt anzudeuten: Noch in Hongkong war sie eine ebenso entsetzte wie passive Beobachterin, als die Gruppe einen Verräter in einem langen, brutalen Kampf niedermetzelte. Der zweite, noch schmerzhaftere Lernprozess Wangs betrifft den Konflikt zwischen Begehren und Moral. Die Entscheidung lässt sich nur aufschieben, aber nicht vermeiden – wobei die Moral des Films jene ist, dass Liebe keine Moral kennt.
Formal ist „Gefahr und Begierde“ nicht sonderlich gewagt, aber dicht und nuancenreich inszeniert. Ein üppig ausgestatteter Historienfilm mit Anklängen an romantische Spionagethriller, den ein Hauch von Doppelspiel und Verschwörung durchzieht. Lees Zeitreise ins mondäne Shanghai der 1930er- und 1940er-Jahre beschwört damit den Mythos vom „New York des Fernen Ostens“, der im chinesischen Film schon seit den 1930er-Jahren ein eigenes Subgenre bildete, und verbindet diesen mit einem exakten historischen Porträt; faszinierend ist die computergestützte Rekonstruktion von Shanghai und Hongkong während des Krieges. Den Gewinn des „Goldenen Löwen“ in Venedig kann man mit der angeblichen „China-Connection“ der Jury allein nicht erklären; eher schon mit Filmmomenten purer Sehnsucht, in denen der Regisseur seit jeher ein Meister ist und die ihn und diesen schönen Film über viele andere hinausheben.