Dokumentarfilm | Deutschland 2007 | 111 Minuten

Regie: Volker Koepp

Eine unerhörte Familiengeschichte, die 1945 auf einem Gut in Westpreußen ihren Anfang nahm: Als die Russen anrückten, floh die Mutter mit ihren beiden ältesten Söhnen in Richtung Westen und ließ die beiden jüngeren bei den Großeltern zurück. Mehr als zwei Jahrzehnte später fanden die Brüder wieder zusammen. Volker Koepp nutzt die Erinnerungen an die Odyssee zum Nachdenken über Themen wie Heimat, Entwurzelung, das existenzielle Eindringen des Politischen ins Private, nationale Stereotypen und Vorurteile sowie ihr Wechselspiel mit dem Wesen des Menschen und des Menschlichen. Dabei erlaubt die mosaikartige Struktur des Films zahlreiche Reflexionen zur Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Thomas Geyer Filmprod./Vineta Film/SWR/WDR/Koppfilm
Regie
Volker Koepp
Buch
Volker Koepp · Barbara Frankenstein
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Rainer Böhm
Schnitt
Beatrice Babin
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der Film beginnt – wie fast immer bei Volker Koepp und seinem Kameramann Thomas Plenert – mit der Totalen einer Landschaft. Diesmal ist es ein weites Feld im Mündungsgebiet der Weichsel, zwischen dem früheren Hinterpommern und Ostpreußen. Hier kamen, von 1938 bis 1944, die Kinder der Familie Paetzold zur Welt, vier Söhne eines deutschen Gutsbesitzers. Jetzt, für Koepps Film und nach teils langen Odysseen, treffen sich die Geschwister in der alten Heimat wieder. Koepp lässt sie einander an den Händen fassen und den Stamm einer riesigen alten Kastanie umringen, ein Naturdenkmal mit einem Umfang von zwölf Metern. Nur gemeinsam schaffen sie die Umarmung; eine schöne, einprägsame Metapher: Vier Söhne, und ein Fünfter dazu, deren Lebensgeschichten im Folgenden, Steinchen für Steinchen, zusammengesetzt werden. Als der Krieg zu Ende ging, flüchtete Mutter Paetzold mit ihren ältesten Jungs Klaus und Wolf in Richtung Westen. Die Kleineren, Friedrich und Rainer, blieben bei den Großeltern in Westpreußen, wurden diesen aber noch im Mai 1945 von polnischen Behörden entrissen und in ein Waisenhaus gebracht. Als die Mutter im Sommer desselben Jahres illegal ins nunmehr polnische Gebiet kam, um nach ihnen zu suchen, begann für sie ein fast zweijähriger Leidensweg. Sie fand Friedrich – und verlor ihn erneut. Von der Miliz wegen Spionageverdacht verhaftet, musste sie für acht Monate ins Gefängnis. Nach der Entlassung bekam sie von den Gerichten einen Jungen zugesprochen, den sie für Rainer hielt. Gemeinsam mit ihm reiste sie im Juli 1947 von Polen nach Deutschland. Erst über zehn Jahre später stellte sich heraus, dass Rainer gar nicht Rainer war; sein wirklicher Name, sein Geburtsdatum und die Herkunft konnten bis heute nicht in Erfahrung gebracht werden. Der „richtige“ Rainer wuchs bei einer polnischen Pflegemutter auf. 1977 wandert er in die Bundesrepublik aus. Auch Friedrich wird irgendwann gefunden: als Stanislaw, der in Warschau lebt. Koepp lässt diese unerhörten Verwicklungen von den Brüdern selbst erzählen, auch vom „falschen“ Rainer, der längst zu den Paetzolds gehört. Es sind Erinnerungen und Reflexionen, die direkt ins Universum der langjährigen Koeppschen Grundthemen führen: Was bedeutet Heimat, was Entwurzelung? Wie tief und existenziell griffen die Einschnitte des 20. Jahrhunderts in die Biografien der Individuen ein? Welche intimen Interferenzen gibt es im deutsch-polnischen Verhältnis; was hat es mit den so genannten Opfer- und Tätervölkern auf sich? Ist das Verhaftetsein des Einzelnen an nationalen Stereotypen und staatlichen Mechanismen wie etwa den Einbürgerungsprozeduren wirklich von Bedeutung? Wie gleich und wie verschieden sind die Menschen über Ländergrenzen hinweg, und was ist von jenen Ideologien zu halten, die die Unterschiede pflegen statt das Gemeinsame zu betonen und zu fördern? Über die fünf Paetzold-Brüder hinaus weitet Koepp den Blick auf deren Frauen und Kinder, denen er sich mit großer Behutsamkeit nähert und sich dabei auch nicht jenen melancholischen Grundierungen verweigert, die von ihrer Geschichte ausgehen – und die bis in die unmittelbare Gegenwart reichen, etwa wenn Friedrichs Tochter Anna über die Genesis ihrer deutsch-polnischen Familie sagt: „Ich erzähle davon nur meinen besten Freunden, weil die Leute hier nicht besonders tolerant sind.“ Was dem Film fehlt, ist ein starkes emotionales Zentrum. Vielleicht wäre dies die Mutter gewesen, Elisabeth Paetzold, die aber 1998 starb und nur noch mit einem Foto und durch Zitate aus einem Erlebnisbericht von 1947 präsent ist. Die Söhne selbst, die, wenn sie über ihre frühe Kindheit reden, fast nur auf Erzählungen aus zweiter Hand angewiesen sind, wirken eher abgeklärt; sachliche Männer, die ihre Seele nicht unbedingt zur öffentlichen Einsicht freigeben. Emotionalere Momente, wie sie durch die großen, in wunderschönen sprachlichen Bildern vorgetragenen Lebensweisheiten von „Herrn Zwilling und Frau Zuckermann“ (fd 33 698) überliefert wurden, finden sich in „Söhne“ kaum. Es sei denn in solchen Szenen wie mit der Erinnerung Friedrichs an die erste Wiederbegegnung mit der Mutter lange nach dem Krieg: „Es hat mich ins Herz getroffen“, vermag er vor der Kamera nur in Polnisch zu sagen, die deutsche Sprache kann und will er dafür nicht benutzen. Insgesamt lässt die mosaikartige Erzählstruktur des Films ausreichend Raum für Assoziationen. So geht es in den Gesprächen auch um das Bild des im Krieg kämpfenden Vaters, ja der Wehrmacht überhaupt, deren Rolle im Dritten Reich von der Generation der in Westdeutschland lebenden Söhne lange Zeit nicht infrage gestellt wurde. Im letzten Drittel präsentiert Koepp dann gleich drei starke Schlussmotive: Zunächst zeigt er die fünf Männer, jeweils allein und in Großaufnahme, am Ostseestrand bei Danzig. Dann schwenkt er über die gesamte Familie: alle Brüder nebst Frauen und Kindern. Am Ende blendet er ein Foto der erwachsenen Söhne mit ihrer alten Mutter ein, wobei in jeder dieser drei Einstellungen ganz eigene Empfindungen mitschwingen.
Kommentar verfassen

Kommentieren