Der Dokumentarfilm widmet sich der kubanischen Hauptstadt und ihren Bewohnern jenseits gängiger, romantischer Postkarten-Klischees und spiegelt facettenreich die marode Situation des sozialistischen karibischen Staates in Bildern zerfallender Häuser sowie in den Schicksalen unterschiedlicher Menschen, die diese bewohnen. Eine faszinierende, pointierte und subjektive Bestandsaufnahme von politischer Relevanz. (O.m.d.U.)
- Ab 12.
Havanna - Die neue Kunst Ruinen zu bauen
Dokumentarfilm | Deutschland/Kuba 2006 | 85 Minuten
Regie: Florian Borchmeyer
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Filmdaten
- Originaltitel
- HABANA - ARTE NUEVO DE HACER RUINAS
- Produktionsland
- Deutschland/Kuba
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Raros Media/Glückauf Film/Koppfilm
- Regie
- Florian Borchmeyer
- Buch
- Florian Borchmeyer
- Kamera
- Tanja Trentmann
- Schnitt
- Birgit Mild
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 12.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Die kubanische Hauptstadt Havanna hat die größte zusammenhängende Altstadt Lateinamerikas. Angeblich wollte der damalige Diktator Batista die gesamte Altbau-Substanz am Malecon, dem Boulevard am offenen Meer, abreißen und stattdessen Wolkenkratzer sowie moderne Spielcasinos im Las Vegas-Stil errichten lassen; der Einmarsch der Revolutionäre am 1. Januar 1959 hat das verhindert. Heute ist die Altstadt in großen Teilen zerfallen, die abgerissenen Fassaden wirken teilweise wie nach einem Krieg, die maroden, oft baufälligen Wohnungen sind überfüllt.
Für kubanische Filmemacher war Havannas Altstadt zum einen die Vision des populären, authentischen Kubas, zum anderen lebendige Projektionsfläche von Transformation und Stagnation des karibischen Sozialismus, wie etwa in Fernando Perez faszinierendem, an Ruttmanns „Berlin, Sinfonie einer Großstadt“ angelehntem Dokumentarfilm „Suite Havanna“ (fd 36 781). Florian Borchmeyer und Matthias Hentschler präsentieren in ihrem Dokumentarfilm die Hauptstadt als Metapher für die Versteinerung und den Zerfall der kubanischen Gesellschaft im 47. Jahr der Revolution, ein Jahr vor Fidel Castros 80. Geburtstag. Sie zeigen die Lebenssituationen höchst unterschiedlicher Protagonisten in den brüchigen Labyrinthen der „Habana Vieja“ und lassen sie im Wechsel ihre Geschichte und besonders die Geschichte des Ortes erzählen: Reinoldo, ein Obdachloser, hat sich in der Ruine des einst luxuriösen Musiktheaters „Teatro Campoamor“ eine Bleibe geschaffen und lenkt sich in dem apokalyptischen Szenarium durch asiatischen Kampfsport ab. Misleidy, eine junge Frau um die 30, hatte vor Jahren durch die Ehe mit einem ausländischen Millionär scheinbar das große Los gezogen; dann aber konnte sie den „goldenen Käfig“ nicht länger ertragen und kehrte dem Luxusleben den Rücken. Jetzt lebt sie mit ihrem Jugendfreund Enrique im oberen Stockwerk des extrem baufälligen ehemaligen Luxushotels „Regina“ und verlässt es kaum noch. Auch Niconor de Campo, ein nach der Revolution enteigneter Großgrundbesitzer, hat sich am Rand der Stadt eine eigene abgeschottete Welt geschaffen. Hier wohnt er im Palast seiner Familie, einem einstigen Landsitz, und kämpft gegen den Verfall des mittlerweile von Autobahnen, Stauseen und anderen Menetekeln der modernen Zeit umgebenen Gebäudes. Mit den letzten Familienangehörigen hat er sich eine vorrevolutionäre Idylle geschaffen, eine fast skurrile Atmosphäre, wie sie auch der Vorstellungskraft des Altmeisters des kubanischen Kinos, Tomás Gutierrez Alea, hätte entstammen können.
Der Klempner Totico ist im Zentrum der Stadt aufgewachsen; den Zerfall der Mietskaserne ignoriert er und widmet sich mit Leib und Seele der Taubenzucht, einer Leidenschaft, der letztlich seine Ehe zum Opfer fiel. Seine Frau versucht ein neues Leben in den sozialistischen Plattenbauvierteln am Rand der Stadt, und hier zeigt der Film andere Ruinen in der Großstadt Havanna, die Überreste des kurzen Traums der sozialistischen Moderne. Die fünfte Hauptfigur schließlich verbindet die diversen Elemente des Films, fungiert als Stadtführer und als postsozialistischer Stadtbild-Erklärer: Der Schriftsteller José Antonio Ponte bezeichnet sich beruflich als „Ruinologen“ und zieht Parallelen zur Dekadenz des 19. Jahrhunderts, als die Kultur des Zerfalls so weit ging, selbst Ruinen zu erbauen. Er zeigt Havanna als eine Art neoromantisches Trümmerfeld, ähnlich den antiken und maurischen Ruinen, die einst Mittelmeer-Reisende in schwärmerische Begeisterung versetzten. Den zerfallenden Zustand der Stadt sieht er aber auch als Metapher für den Zerfall Kubas generell, in erster Linie des politischen Systems, aber auch der sozialen Geflechte und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Als kubanischer Kulturschaffender bleiben José Antonio Ponte kaum noch Perspektiven; bereits lange bevor ihn der Film begleitet, wurde er aus dem Schriftsteller-Verband ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkommt. Dass „Havanna – Die neue Kunst Ruinen zu bauen“ beim Filmfestival in der kubanischen Hauptstadt aus der deutschen Reihe genommen wurde, zeigt, dass der Film durchaus politische Relevanz hat, womit er sich wohltuend von so vielen Postkarten-Filmen über die bizarre, sichtbare Oberfläche Havannas unterscheidet. Er bietet eine pointierte, subjektive Zustandsbeschreibung der Gegenwart des kubanischen Sozialismus, wobei die Filmemacher auf Antworten verzichten und stattdessen Fragen provozieren: Was wird aus den Protagonisten werden, wenn nach einem gesellschaftlichen Wandel Abrissbirnen und Bautrupps den Ruinen ein Ende setzen?
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