Eine fatale Entscheidung

Polizeifilm | Frankreich 2005 | 110 Minuten

Regie: Xavier Beauvois

Eine alkoholkranke Hauptkommissarin kehrt nach zweijähriger Auszeit zu ihrer Pariser Kripo-Einheit zurück und begegnet einem jungen Kollegen aus der Provinz, für den sie bald mütterliche Gefühle empfindet. Als er bei einem Einsatz gegen die osteuropäische Mafia erstochen wird, droht ihr der erneute Absturz. Der wenig an äußerer Spannung und Verrätselung interessierte Film zeichnet präzise und unspektakulär den polizeilichen Alltag, lotet die Psychologie der ambivalenten Figuren aus und prangert in kritischen Untertönen latenten Rassismus, Sexismus und soziale Fehlentwicklungen an. In der Hauptrolle hervorragend gespielt, überzeugt er zudem durch den nahezu dokumentarischen Blickwinkel der Kamera. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE PETIT LIEUTENANT
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Why Not Prod./Studio Canal/France 2 Cinéma
Regie
Xavier Beauvois
Buch
Xavier Beauvois · Guillaume Bréaud · Jean-Eric Troubat
Kamera
Caroline Champetier
Schnitt
Martine Giordano
Darsteller
Nathalie Baye (Caroline Vaudieu) · Jalil Lespert (Antoine Derouère) · Roschdy Zem (Solo) · Antoine Chappey (Louis Mallet) · Xavier Beauvois (Nicolas Morbé)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Polizeifilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Arsenal (16:9, 1.78:1, DD2.0 frz./dt.)
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Diskussion
Ein Unglück kommt selten allein und manchmal sogar zuhauf. Regisseur, Autor und Darsteller Xavier Beauvois taucht in seinem vierten Langfilm tief in den erdenschweren Alltag einer Pariser Kripo-Einheit ein, die zwischen Alkoholmissbrauch und schwarzem Humor die Belastungen ihres Berufs vergeblich auf Distanz zu halten versucht. An der Spitze steht Hauptkommissarin Caroline Vaudieu, die nach zwei Jahren Auszeit und einer Alkoholentziehungskur an den Ort zurückkehrt, der sie zuvor in die Sucht getrieben hat. Die wunderbare Nathalie Baye spielt sie mit großem Mut zur Hässlichkeit, ungeschminkt, abgespannt und stets um Selbstkontrolle bemüht, eine Frau, der man die Zumutungen ihres Lebens glaubt und auch, dass sie es gelernt hat, die vielen Krisen zu überwinden. Ihr Gegenpart ist der junge Kommissar Antoine Derouère, der sich gleich nach Abschluss der Ausbildung hoffnungsvoll bei der Pariser Mordkommission meldet und seine Freundin in Nordfrankreich zurücklässt. Dass er die berufliche Erfüllung einer intakten Beziehung vorzieht, ist nicht nur ein Zeichen ausgeprägten Ehrgeizes, sondern auch ein Hinweis auf romantisierende Vorstellungen, die er sich über den Beruf macht. Wie ein kleiner Junge erfreut er sich an seiner ersten Verfolgungsfahrt, und wenn er abends im Bett mit seiner Dienstwaffe spielt, dann ahmen seine Gesten Vorbilder aus Western-Filmen nach. Beauvois setzt in seinem auf den ersten Blick zähen Kriminaldrama klassische Genremotive wie männliche Gruppendynamik, Gewalt auf dem Kommissariat oder die Ankunft eines Neuen zusammen und erstaunt zugleich durch die kühle Präzision, mit der er die Eigenheiten seines Milieus einfängt. Ohnehin interessiert er sich mehr für die Psychologie der mitunter ambivalenten Figuren als für Spannungsaufbau, Action oder gar überraschende Wendungen. Wie Maurice Pialat in „Police – Der Bulle von Paris“ (fd 27 532) oder Bertrand Tavernier in „Auf offener Straße“ (fd 29 847) zeigt er den Polizistenalltag als unbarmherzige Schule des Lebens, in der Humanität auf der Strecke bleibt. Dazu passt, dass die unruhige Kamera von Caroline Champetier einen fast dokumentarischen Blickwinkel einnimmt und akribisch jede noch so nebensächliche Grenzsituation oder Fehlentwicklung dokumentiert: von der lautstarken Festnahme eines Betrunkenen über latenten Rassismus unter den zermürbten Beamten bis zu Verhörmethoden, die erschreckend ineffizient ausfallen. Gleich bei der ersten Obduktion erweist sich Antoine sensibler als ihm lieb ist, und auch die sexistischen Sprüche, die seine Kollegen über die Chefin austauschen, registriert er eher sorgenvoll als belustigt. In der zwar angeschlagenen, aber resolut auftretenden Vorgesetzen weckt er mit seiner unbeholfenen Art mütterliche Instinkte und rührt damit an ein Trauma, das für sie immer noch nicht ausgestanden ist: der Verlust ihres siebenjährigen Sohnes, der an einer Gehirnentzündung starb und auch das Ende ihrer Ehe nach sich zog. Die Chefin nennt den Neuling bald liebevoll „Petit Lieutenant“ (so der Originaltitel), der viel besser zur unspektakulären Stoßrichtung des Films passt, als die melodramatische deutsche Variante. Der erste gemeinsame Fall verspricht zunächst nur Routine. Es gilt, den Mord an einem polnischen Obdachlosen aufzuklären, der in der Nähe des Polizeireviers am Seine-Ufer totgeschlagen aufgefunden wurde. Bald führen die Spuren ins Milieu osteuropäischer Mafiosi, die besonders brutal und rücksichtslos vorgehen. Als Antoine voller Übermut allein einen Verdächtigen zu stellen versucht, rammt ihm der Russe sein Messer in den Bauch. Erst eine halbe Stunde später findet ihn sein Kollege, der auf die Schnelle ein Bier in der Eckkneipe trinken wollte, bewusstlos in einer Blutlache. So ernüchternd leise Beauvois diesen sinnlosen Tod inszeniert, so konträr gestaltet er die Reaktion von Caroline. Der Schmerz über den erneuten Verlust treibt sie zurück zum Alkohol, und fast glaubt man, der Absturz sei unausweichlich. Auch jetzt erfüllt Beauvois nicht die Erwartungen. Der Rückfall bleibt die Ausnahme, und gerade weil Carolines Kampf um die eigene Stabilität bis zum Schluss nicht entschieden ist, fiebert man mit, wenn sie alle ihre Kräfte darauf richtet, Antoines Mörder zu finden. Am Ende sieht man sie in einer ungewohnt langen Fahrt allein einen menschenleeren Strand entlang gehen, aufgewühlt und hilflos angesichts der Tatsache, dass sie gerade einen Menschen auf der Flucht erschießen musste. Auf ihrem zitternden Gesicht wird der Abgrund zwischen Genugtuung und Angst zum bestürzenden Ereignis. Ein vergrübelter Polizeifilm mit gesellschaftskritischen Untertönen, der die Erzählkonventionen offen legt – und zugleich eine Liebeserklärung an die spät respektierte Nathalie Baye, die von Film zu Film besser wird.
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