Anhand eines Lottogeschäfts in einem Armenviertel Neapels werden nicht nur Menschen und ihre Spielleidenschaft vorgestellt, sondern die Lotterie wird als innere Notwendigkeit erfahrbar gemacht, mit der es gelingt, Strategien der Hoffnung am Leben zu erhalten. Ein wundervoll fotografierter Dokumentarfilm, dessen Zahlenmystik eine eigenwillige Faszination ausstrahlt. (O.m.d.U.)
- Ab 14.
Die Träume Neapels
Dokumentarfilm | Niederlande/Italien 2005 | 75 Minuten
Regie: Anna Bucchetti
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Filmdaten
- Originaltitel
- DREAMING BY NUMBERS
- Produktionsland
- Niederlande/Italien
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Armadillo
- Regie
- Anna Bucchetti
- Buch
- Anna Bucchetti
- Kamera
- Stefano Bertucchini
- Musik
- Lucio Galiendo
- Schnitt
- Katarina Turler
- Länge
- 75 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Im wirklichen Leben nutzt es wenig zu wissen, dass die Zahl 36 Carabinieri bedeutet, 47 für Tod, 77 für Teufel steht. Die Kodierung für Frau heißt 21, Christus ist mit der immerhin noch nachvollziehbaren 33 belegt. Zahlenspiele, mit denen Anna Bucchetti in ihrem wundervoll fotografierten Film in die Altstadt Neapels entführt, ein Quartier der armen und einfachen Leute, die der Leidenschaft fürs Lotterie-Spiel zu frönen scheinen. Dabei hat diese ursprüngliche Art des Lottospiels auf den ersten Blick nichts mit hiesigen Lottoannahmestellen zu tun, in denen sechs scheinbar willkürlich angekreuzte Zahlen über das zukünftige Schicksal der Spieler entscheiden können. „Die Träume Neapels“ führt an die Ursprünge dieser Spielleidenschaft, zeigt die Schwestern Angela und Maria, die ihr Lottogeschäft in der dritten Generation betreiben und nicht nur als Geschäftsfrauen ein hohes Ansehen genießen, sondern auch als Traumdeuterinnen, weil sie aufgrund ihres alt überlieferten Grimas-Buchs Träume und Visionen in Zahlen übersetzen können, die dann als Losnummern erstanden werden. Dies erfordert einiges an Fingerspitzengefühl; weil komplexe Träume in ihre wesentlichen Bestandteile entschlüsselt werden müssen, sorgt es mitunter auch für arge Probleme, weil der Grimas-Ratgeber wenig über hinkende Kakerlaken oder dreibeinige Hühner auszusagen weiß. Die Regisseurin begnügt sich nicht mit dieser unterhaltsamen Aneinanderreihung pittoresker Beispiele, sondern lotet in die Tiefe. Sie lässt die Menschen des Viertels zu Wort kommen und macht ihre Schicksale transparent, erzählt Lebensgeschichten und von den Hoffnungen der Menschen, sich Numerologie, Zahlenmystik und die Geheimnisse der Kabbala zunutze zu machen, um ihrem Schicksal nicht ausgeliefert zu sein. Der erblindende Historiker Giuseppe Imbucci, der das Treiben in seinem Viertel vom Balkon aus verfolgt, sieht im Lottospiel eine Überlebensstrategie der Armen; für einen Buchbinder und Restaurateur, der seine Lottozahlen aus dem Leben greift – aus Autonummern etwa, die entsprechend entkodiert werden müssen –, ist die Lotterie Fantasie und Liebe zugleich, und einer älteren Dame, die ihre Kinder an die Drogensucht bzw. ein unzulängliches Gesundheitssystem verlor, bietet sie Rückhalt und Erinnerung. Schließlich spielt sie seit Jahren die Geburtsdaten der Verstorbenen und fühlt sich ihnen durch die Lotterie verbunden.
Professore Imbucci sieht im Spiel eine innere Notwendigkeit, um eine Strategie der Hoffnung am Leben zu erhalten. Folglich ist es nicht die Hoffung auf Millionengewinne, sondern die Hoffnung aufs Überleben, dem vielleicht einmal ein kleines Glück beschieden ist. Man mag diesen schönen Dokumentarfilm als ein Dokument des Aberglaubens abtun, der sich angesichts weltweiter Überaufklärung auch in vereinzelten Gebieten Europas noch gehalten hat, man kann sich allerdings auch nicht der Tatsache verschließen, dass kaum ein hiesiger Lottospieler nicht seine festgelegten Glückszahlen hätte. Geburtsdaten, Hochzeitstage, die Daten unvergesslicher Glücksmomente oder überstandener Katastrophen sind auch hier fester Bestandteil der Lottoscheine und bezeugen die Hoffnung, dem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen. So gesehen führt der Dokumentarfilm sein scheinbar archaisches System in die Gegenwart zurück und verweist durch seinen pointiert gewählten Originaltitel „Dreaming by Numbers“ auf Peter Greenaways ebenso galligen wie meisterlichen Film „Drowing by Numbers“ („Verschwörung der Frauen“, fd 27 222), dem eine ebenso schwer ergründliche Zahlenmystik zugrunde liegt. Mit „Drawing by Numbers“, dem Zeichnen nach Zahlen, die nicht entschlüsselt werden müssen, sondern vorgegeben sind, hat das wirkliche Leben gottlob wenig zu tun – und wie zeichnet man auch eine hinkende Kakerlake?
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