Die Geschichte des jungen Eskimos Minik, der 1897 mit Angehörigen seiner Sippe als "Beute" einer Polarexpedition nach New York verschleppt wurde, um der anthropologischen Forschung zur Verfügung zu stehen. Ein beeindruckender Dokumentarfilm über die Auswüchse einer verantwortungslosen Wissenschaft, der den Blick einer vermeintlichen Herrenrasse auf den Rest der Welt spiegelt. Die kluge Anordnung von Spielszenen, Dokumentar- und Archivmaterial verdichtet den Film zu einer ebenso spannenden wie erhellenden Geschichtslektion.
- Sehenswert ab 14.
Minik
Dokumentarfilm | Deutschland/Österreich 2005 | 80 Minuten
Regie: Axel Engstfeld
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Filmdaten
- Originaltitel
- MINIK
- Produktionsland
- Deutschland/Österreich
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- NDR/ARTE/ORF/epo-Film
- Regie
- Axel Engstfeld
- Buch
- Axel Engstfeld
- Kamera
- Hans Jakobi
- Musik
- Hans Günther Wagener
- Schnitt
- Josef van Ooyen
- Länge
- 80 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
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Heimkino
Diskussion
Oktober 1897: Als der Polarforscher und Geschäftemacher Robert Peary von einer seiner Grönland-Expeditionen nach New York zurückkehrt, hat er nicht nur Felle und Elfenbein an Bord seines Schiffes „Hope“, sondern auch einen riesigen Meteoriten – und fünf leibhaftige Eskimos. Diese liefert er im American Museum of Natural History (AMNH) ab, dessen Kurator Franz Boas sich für anthropologische Studien an lebenden Objekten interessierten. Damit beginnt für den 10-jährigen Minik, seinen Vater und drei weitere Angehörige ihrer Sippe ein Albtraum, in dessen Verlauf sie zunächst im Keller des Museums einquartiert werden. Obwohl alle Eskimos bald an Tuberkulose erkranken, avancieren sie zu beliebten Ausstellungsobjekten der New Yorker Gesellschaft. Ein halbes Jahr später, im Februar 1898, ist von dem Clan nur noch Minik übrig geblieben. Die sterblichen Überreste seiner Verwandten werden zu Forschungszwecken an andere Museen verteilt, die Gebeine im naturkundlichen Museum eingelagert. Minik hat Glück im Unglück, er überwindet seine Krankheit und findet im Museumsangestellten Wallace einen verständigen Adoptivvater, der sich scheinbar liebevoll um ihn kümmert und die Talente des jungen „Wilden“ fördert.
Robert Peary, den Initiator dieser völkerkundlichen Untat, nimmt an diesen Entwicklungen schon längst keinen Anteil mehr. Ihn hat der Ehrgeiz gepackt, der Entdecker des geografischen Nordpols zu werden, weshalb er weitere Expeditionen unternimmt und im Februar 1909 erklärt, dass er sein Ziel erreicht habe. Minik, der sich verzweifelt um eine Arbeit in den Vereinigten Staaten bemüht und im Artic-Club angesichts seines eloquenten Auftretens inzwischen nicht mehr gern gesehen ist, darf im gleichen Jahr nach Grönland zurückkehren. Doch in der Zwischenzeit hat er nicht nur die Sprache der Eskimos, sondern auch die Befähigung zum Jagen verlernt, weshalb er ein Fremder in seiner eigentlichen Heimat bleibt. In eloquenten Briefen an Wallace beklagt er seine Heimatlosigkeit und kehrt sieben Jahre später in die USA zurück, wo er als Holzfäller einen Job findet und im Winter 1917 an der Spanischen Grippe stirbt.
Axel Engstfeld bleibt seiner Vorliebe fürs ewige Eis treu und beschäftigt sich nach „Antarctica Projekt (fd 27 941) über eine gescheiterte Greenpeace-Mission zum Südpol und „Das Alaska Syndrom“ (fd 29 348) über die Auswirkungen der Havarie des Tankers „Exxon Valdez“ (1989) einmal mehr mit dem verheerenden Eingriff der Zivilisation in eine intakte Natur. „Minik“ ist als filmisches Vexierspiel angelegt, bei dem sich spärliche Originaldokumente, aktuelle Szenen grönländischer Eskimos, Interviewszenen aus dem AMNH und ausgedehnte Spielszenen mischen, die mit Tagebucheinträgen und Briefen von Minik unterlegt sind. Das Ergebnis ist die Auffächerung eines wissenschaftlichen Verbrechens, das von den Tätern seinerzeit nicht als solches eingestuft wurde, die sich auf der Höhe der damaligen Forschung glaubten. Die junge Disziplin der Anthropologie meinte, im Vergleichen, Katalogisieren und Klassifizieren einen Beitrag zur Erforschung des Menschen zu leisten, ohne über die zutiefst inhumanen Methoden ihres Tuns nachzudenken. „Minik“ enthüllt eine von kolonialistischen Ideen durchdrungene Wissenschaft, die sich nach der geopolitischen Aufteilung der Welt deren Bewohnern zuwandte und sich weithin von der Differenz zwischen Herrenrasse und indigenen Wilden leiten ließ. Der „Wilde“ ist der Primitive, der, scheinbar bar aller Gefühle und Würde, als Forschungsobjekt herangezogen wird. Das setzt die Anfänge der Anthropologie nicht in das beste Licht, und entsprechend schleppend kamen die Dreharbeiten des penibel recherchierten Films voran, dem im AMNH nur beschränkte Drehgenehmigungen erteilt wurden; auch wollte längst nicht jeder der mit dem historischen Fall vertraut ist, für Interviews vor die Kamera treten. Dennoch ist das Ergebnis eine rundum gelungene Sache, die sich zwar nicht immer moralisierenden Wertungen enthält, in erster Linie jedoch Fakten zusammenträgt, die sich zu einer nachdenklichen Fallstudie über wissenschaftliche Ethik verdichtet und Themen aufgreift, die trotz des historischen Bezuges auch heute noch brisant sind. In einer winzigen Szene am Rande erweist Engstfeld außerdem dem Vater des modernen Dokumentarfilms, Robert J. Flaherty, seine Reverenz: Man sieht Eskimos bei der Robbenjagd; auch hier wird die erlegte Robbe aufs Eis gezogen; auch hier weiß man nicht, ob die Szene gestellt ist oder schlicht Jagdglück dokumentiert. Ein filmhistorisches Zitat als Fußnote in einem ebenso bedrückenden wie beeindruckenden Film.
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