Zweiteilige Dokumentation über die erste Schaffensperiode des Sängers und Poeten Bob Dylan, die seinen Werdegang zur Ikone der Country- und Protest-Musik verfolgt und im Jahr 1966 mit jenem von Dylan bewusst herbeigeführten Bruch endet, mit dem er bei einem Konzert in London durch seine Hinwendung zur elektrisch verstärkten Rock-Musik die Fans verprellte. Der durch ein langes Interview mit Dylan gerahmte Film bietet eine Fülle von klug eingesetztem Archivmaterial, durch das der Künstler in ein politisches wie kulturelles Umfeld gestellt wird und die gegenseitigen Beeinflussungen erkennbar werden. Nicht nur für Musikfans von hohem ästhetischem Reiz.
- Sehenswert ab 12.
No Direction Home - Bob Dylan
Musikfilm | USA/Großbritannien 2005 | 205 Minuten
Regie: Martin Scorsese
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Filmdaten
- Originaltitel
- NO DIRECTION HOME - BOB DYLAN
- Produktionsland
- USA/Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Box TV/BBC/Cappa/Grey Water Park/PBS/Spitfire/WNET Channel 13
- Regie
- Martin Scorsese
- Kamera
- Maryse Alberti · Mustapha Barat · Oliver Bokelberg · Anghel Decca · Ken Druckerman
- Musik
- Bob Dylan
- Schnitt
- David Tedeschi
- Länge
- 205 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 12.
- Genre
- Musikfilm | Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Bereits 1978 zollte Martin Scorsese seiner Verehrung für Pop-Musik Tribut, als er mit „The Band/The Last Waltz“ (fd 20 850) einen Zusammenschnitt des Abschiedkonzerts jener legendären Formation schuf, die seit 1966 den Pop-Poeten Bob Dylan musikalisch begleitet hatte. Mitreißend und mit ungeheurem Gespür für die Songs montiert, übertrug er den gelungenen Auftritt ins Kino, wobei der rauschhafte Bilderfluss lediglich durch eingestreute Interviews mit den Musikern unterbrochen wurde; Bob Dylan und Joni Mitchell waren exponierte Gast-Musiker des Filmkonzerts. Nach seinem siebenteiligen Filmprojekt „The Blues“ schließt sich nun der Kreis: „The Band“, die 1978 in allen Ehren verabschiedet wurde, tritt nun noch einmal am Ende eines Films auf, der mit Haut, Haar und Herz dem Ausnahmemusiker Bob Dylan gewidmet ist. Doch anders als in „The Last Waltz“ werden in „No Direction Home – Bob Dylan“ die Interviews nicht scheinbar willkürlich dazu montiert; vielmehr bildet ein langes Gespräch mit dem in Minnesota geborenen Musiker den roten Faden, der dem überbordenden Film eine gewisse Grundierung gibt, vor deren Hintergrund Dylans Lebensgeschichte aufgerollt wird. Dabei trifft der Ausdruck „Lebensgeschichte“ die Sache nicht annähernd, denn trotz der dreieinhalbstündigen Laufzeit endet der Film bereits 1966 – da war Dylan gerade mal Mitte 20 und hat seitdem, wenn auch mit Pausen, unermüdlich weitere Platten produziert, im Filmen mitgespielt, selbst Regie geführt, Lyrik und Prosa geschrieben und eine mehrteilige Biografie vorgelegt.
Das Jahr 1966 scheint für Scorsese so wichtig, weil es eine Schnittstelle markiert, an der sich Dylan endgültig definiert, teilweise neu erfunden hatte und endlich auf dem langen Weg nach Hause, zu sich selbst, war; seine Fangemeinde hatte er so nachhaltig polarisiert, dass er letztlich über alle künstlerischen Vorwürfe erhaben sein konnte. Robert Zimmermann, der seinen Namen aus Angst vor dem unterschwelligen Rassismus in den USA in Bob Dylan änderte, war bei sich angekommen, aber längst noch nicht nach Hause. In der Grundstruktur erzählt Scorsese weitgehend chronologisch, hält sich an die Lebensdaten und -fakten seines Protagonisten. Doch bereits die erste Szene ist ein eklatanter Verstoß gegen solche dokumentarische Vorgehensweise. Sie zeigt einen Ausschnitt aus dem Konzert, das Dylan und „The Band“ 1966 in London gaben. Der Folksänger hatte, wie bereits schon zuvor beim legendären Newport Festival, dem der „Country“-Sänger seine ersten große Erfolge verdankt, schweres Geschütz aufgefahren. Eine ausgewachsene Rock-Band sollte nach Willen des Publikums nicht zum Image des Sängers passen, der mit seiner damaligen Lebensgefährtin Joan Baez auch durch Auftritte im Umfeld der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bekannt geworden war; die E-Gitarre, die er sich umgehängt hatte, war für dieses Publikum schlicht Teufelsweg. Sein Song „Like a Rolling Stone“, mittlerweile so etwas wie Weltkulturerbe der Rock-Musik, wurde ausgebuht, „Verräter“- und „Judas“-Rufe schallten der Bühne entgegen, und nach drei Stücken verließen Dylan und Band die Bühne. Der Abgang des Musikers, der die Attraktion des Abends werden sollte.
Genau darum geht es Scorsese in seinem Film, der neben der Biografie des jungen Dylan einen Abriss der US-amerikanischen Geschichte der damaligen Zeit liefert. Wobei Geschichte hier nicht nur die weltbewegenden Ereignisse umfasst, sondern all das, was einen jungen Mann aus Minnesota, der in New York sein Glück versucht, und nach wenigen Monaten als halbwegs fertiger Musiker wieder in seine Heimat zurückkehrt, beeinflussen konnte. So die Verehrung für die Country-Ikone Hank Williams sowie die Sänger Woody Guthrie und Pete Seeger, die Galeonsfiguren der amerikanischen Arbeiter- und Protestbewegung waren. Ihren Beispielen folgte der junge Musiker, aus ihren Stücken stellte er seine ersten Auftritte, sein erstes Album zusammen. Doch mit dem eigenen Erfolg mit „Hard Rain“, „Masters of War“, und, natürlich, „Blowing in the Wind“, ein Song, der quasi über Nacht von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vereinnahmt wurde, wurde der Jünger selbst zum Propheten, stets in Gefahr, von diversen politischen Zielgruppen vereinnahmt zu werden. Noch heute wehrt sich Dylan vehement dagegen, als Linker oder Kommunist – Etiketten, die ihm auch von Seiten seiner Gegner angehängt wurden – vereinnahmt zu werden. Einen ausgeprägten Bürger- und Gerechtigkeitssinn streitet er dabei nicht ab, will sich nur jenseits aller politischen Gesinnungen verortet wissen.
Scorsese vollzieht diese Entwicklung überaus überzeugend nach. Dabei überrumpelt er mit einem, gerade zu Beginn, stakkatoartig montierten Film, der das Nebeneinander von Privatem, Politik, Kultur und Alltag mischt. Man wird von der Bilder- und Informationsflut nahezu überwältigt, Heimvideo mischt sich mit offiziellen Dokumenten, selten gesehenes Archivmaterial mit Interview-Szenen, in denen u.a. Pete Seeger, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti und Joan Baez zu Wort kommen. Weggefährten, Inspirationsquellen, Bewunderer. Der Kennedy-Mord findet seinen Niederschlag ebenso wie die Schüsse auf Lee Harvey Oswald, die Kuba-Krise wird ebenso kurz eingeblendet wie der Vietnam-Krieg. Doch all dies dient nur, um einen außergewöhnlichen Künstler zu zeigen, der sein Talent und seinen Hang zur Schauspielerei nutzt, um sich jeden Tag neu zu erfinden, bis er letztlich glaubt, sich gefunden zu haben. Seine Art, Musik zu machen, der selbstgebastelte Mundharmonika-Halter und seine kryptischen Texte waren etwas revolutionär Neues, wie seine Entdecker, Förderer und Produzenten bekennen. Beinahe so etwas wie eine Musik von einem anderen Stern.
Joan Baez, die Protestsängerin, erzählt in ihrer Küche von ihren Erinnerungen an Bob, greift zur Gitarre und stimmt „Four Letter Word“ an, das Dylan im gemeinsam bewohnten Londoner Hotel schrieb; sie erinnert sich an seine Arbeitswut, und je länger sie erzählt, um so persönlicher wird sie, kann letztlich auch ihre Verletzungen nicht verbergen. Anscheinend hatte Dylan ihr das Entree auf die großen polit-musikalische Bühne nie so recht gedankt. Im Interview mit Scorsese entschuldigt sich der gealterte Sänger für diese und andere Verletzungen, doch zwischen den Bildern und hinter den Worten wird deutlich, dass er sich gar nicht anders verhalten konnte; hier spricht einer, der sich nur vor seinen eigenen Karren spannen lassen wollte. Dies wird auch in den überaus witzigen Interviews deutlich, die Dylan auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere gab. Er stellte die Fragen der Journalisten in Frage, entzog sich, spielte den Clown und stellte der Macht der Presse und der sie vorgeblich vertretenden Öffentlichkeit Persönlichkeitsrechte und die Freiheit für ein wildes Denken entgegen. Die Kritik, so wird Dylan später sagen, würde in seine Lieder schon einen Sinn hineininterpretieren. Er beharrt nach wie vor darauf, dass mit „Hard Rain“ wirklich nur ein extrem starker Regen gemeint war, alle Welt interpretierte den Song indes als Metapher für den atomaren Fallout.
Das letzte Kapitel, in dem Dylan in alten Aufnahmen immer wieder einen „zugedröhnten“ Eindruck macht, als wäre er dem Mr. Tambourine viel zu oft über den Weg gelaufen, beschreibt Scorsese Dylans Ausstieg aus der Polit- und Protest-Szene; die Zusammenarbeit mit der Gruppe „The Byrds“, die Auftritte mit Mike Bloomfield und Al Cooper, die sich steigernde Abnablung von Newport und schließlich das Treffen mit den Musikern von „The Band“, die in Forest Hill den Eindruck gewinnen, mit Dylan eine „Musik für die Ewigkeit“ zu kreieren. Wenig später erleidet Dylan einen Motorradunfall, bei dem er sich schwere Schädelfrakturen zuzieht. Knapp drei Monate später, am 29.7.1966, steht er, „direkt aus dem Grab“, mit „The Band“ in London auf der Bühne. Er wendet sich an seine Mitspieler und fordert sie auf, laut zu spielen. „Like a Rolling Stone“,dröhnt aus den Lautsprechern. Seine Zuhörer danken mit Buh-Rufen.
Mit „No Direction Home“ hat Scorsese nicht nur einen höchst komplexen polit-kulturellen Film und die überwältigende Biografie eines Ausnahmekünstlers geliefert, der sich nicht in kleingerahmten Weltbildern verewigt wissen will; es gelingt ihm bei aller erkennbaren Bewunderung auch, das Selbstbild Dylans immer wieder in Frage zu stellen. Dies funktioniert besonders gut im Tonschnitt und in der Tonmischung. Kein einziges Stück wird ausgespielt, nie darf der Fan in musikalischen Erinnerungen schwelgen, immer wieder unterläuft der Film die Songs, be- und hinterfragt ihren Schöpfer – und erweist sich damit ähnlich geschickt wie Dylan selbst, der sich trotz seiner überzeugten Positionen nie festlegen wollte. Die filmische Umkreisung einer Ikone, die gerade dadurch, dass sie auf vorgeblicher Augenhöhe serviert wird, in unerreichbarer Ferne scheint, und ein Musikfilm, in dem die Musik in den Hintergrund tritt und trotzdem stets präsent ist. Jüngeren Zuschauer bietet Scorseses Meisterleistung die Gelegenheit, sich auf das Denken, die Gefühle, Songs und Gedichte einer „verlorenen Generation“ einzulassen; Ältere haben die Chance, sich ohne Nostalgie an eine Zeit zu erinnern, in der das Denken noch über den eigenen Tellerrand hinausging und in der zumindest die Ideen unsterblich schienen.
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