Einen jungen Mann verschlägt der Tod des Vaters nach Flensburg zu seinem Großvater, wo er eine schöne Frau kennen lernt. Als sich die beiden kurze Zeit später wieder aus den Augen verlieren, macht er sich auf die Suche nach ihr, wobei sich ihm ungeahnte Schwierigkeiten in den Weg stellen. Eine sorgfältig komponierte, bildgewaltige Reflexion über menschliche Grenzerfahrungen, getragen von großartig spielenden und geführten Darstellern. Den großen Themen Sterben und Verlust stellt der Film dabei eine hoffnungsvolle Liebesgeschichte entgegen.
- Sehenswert ab 16.
Die blaue Grenze
Drama | Deutschland 2005 | 104 Minuten
Regie: Till Franzen
Kommentieren
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Discofilm/NDR/arte
- Regie
- Till Franzen
- Buch
- Till Franzen
- Kamera
- Manuel Mack
- Musik
- Enis Rotthoff
- Schnitt
- Sebastian Schultz · Till Franzen
- Darsteller
- Antoine Monot jr. (Momme Bief) · Beate Bille (Lene) · Dominique Horwitz (Kommissar Poulsen) · Hanna Schygulla (Frau Marx) · Jost Siedhoff (der alte Bief)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Die Extras beinhalten u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs, ein ausführliches "Making Of" (45 Min.), im Film nicht verwendete Szenen (13 Min.) sowie ein informatives Interview mit dem Regisseur. Die DVD hat wegen des Bonusmaterials eine höhere Freigabe ("ab 12").
Diskussion
Der Tod und die Liebe – das sind seit jeher zentrale Themen der Kunst: jene Bereiche, in denen individuelles menschliches Dasein seine Grenzen transzendiert und die sich eigentlich der Erfassung, der Darstellung verweigern und doch immer wieder nach Ausdruck verlangen. Viel gestorben wurde und wird auch im Kino, doch nur wenige Filme lassen sich wirklich auf das Mysterium Tod ein und suchen Bilder für die geheimnisvolle Leere, die entsteht, wenn ein Mensch stirbt. Till Franzens „Die blaue Grenze“ ist so ein Film.
Im fernen Osten sagt man, dass einst die Lebenden und die Toten dieselbe Welt bewohnt hätten. Dann aber seien die Toten zu viele geworden, und die Lebenden hätten sie hinter die Spiegel verbannt. Manchmal aber komme es vor, dass einer dieser Toten aus dem Spiegel ausbreche. Diese Worte, aus dem Off gesprochen von Hanna Schygulla, leiten eine suggestive Reise ins Grenzgebiet zwischen Deutschland und Dänemark ein, das zum Niemandsland zwischen Leben und Tod wird. Momme, ein stiller, junger Mann mit einem leicht untersetzten Körper und einem breiten Kindergesicht, verliert seinen Vater. Er macht sich in der Nähe von Flensburg auf die Suche nach seinem Großvater, doch auch diesen hat der Verlust eines geliebten Menschen aus seiner Wohnung vertrieben: Seit dem Tod seiner Frau lässt er sein Appartement in der Stadt verkommen und lebt in einem kleinen Wochenendhaus in einer Schrebergartensiedlung. Während Momme ihn dort besucht, stößt er nachts auf eine Partygesellschaft aus Dänemark, unter ihnen die schöne Lene. Sie und Momme kommen sich schnell näher, und als sie am nächsten Morgen in ihre Heimat zurückkehren muss, kann Momme sie einfach nicht vergessen. Er macht sich auf die Suche nach ihr; doch bei der Überquerung der „blauen Grenze“ nach Dänemark stellen sich ihm ungeahnte Schwierigkeiten in den Weg.
Parallel zu Mommes Geschichte und nur ganz locker mit ihr verknüpft entfaltet sich das Schicksal des Kripo-Beamten Poulsen. Dieser ist, obwohl eigentlich ein Mann „in den besten Jahren“, in den Ruhestand versetzt worden. Die drohende Einsamkeit versucht er durch die absonderlichsten Mittel zu bekämpfen, wobei er seinen ehemaligen Kollegen gehörig auf die Nerven geht; wirklichen Halt findet er nur bei einer Nachbarin, die ihm als ruhige Zuhörerin zur Seite steht. Dominique Horwitz verkörpert Poulsen als grotesk-kuriose Gestalt, die für Komik sorgt, ohne durch die Überzeichnung jedoch an menschlichem, tragischem Potenzial zu verlieren, und je weiter die Handlung fortschreitet, umso mehr treiben einem die Versuche Poulsens, seine seltsam haltlose Situation in den Griff zu bekommen, kalte Schauer über den Rücken. Sowieso lohnt es schon wegen der exzellenten Darstellerriege, sich „Die Blaue Grenze“ anzusehen: wegen des Wiedersehens mit Hanna Schygulla, aber auch wegen des bemerkenswerten Hauptdarstellers Antoine Monot jr. als Momme. Herausragend auch Jost Siedhoff als Großvater: Er spielt ihn als herben, verstörten Mann, den die Trauer um seine Frau bitter und heimatlos gemacht hat. Während er, ganz ähnlich wie Kommissar Poulsen, in einem ebenso hartnäckigen wie sinnlosen Kampf gegen sein Schicksal verfangen ist und den Tod nicht akzeptieren kann, sind die Frauen in Franzens Film, Hanna Schygulla als Nachbarin und Beate Bille als Lene (die sich, wohl nicht zufällig, auf gewisse Weise ähneln), so etwas wie der ruhende Pol. Nicht zuletzt wird dieser Eindruck durch die sorgfältige Raumpoetik des Films evoziert. Während die Wohnungen der Männer – Mommes Hof, die Wohnung des Großvaters, Poulsens modern eingerichtetes Haus – durch Ausstattung, Farbgebung und Lichtsetzung unwohnlich wirken, bietet sich bei den Frauen Zuflucht und Wärme. Das Haus, das Lene mit ihrer Großmutter bewohnt, entstammt einem Idyll, ist ein rettender Hafen jenseits der Wasser, die Dänemark und Deutschland trennen und die hier fast die mythischen Dimensionen eines Lethe-Flusses annehmen. Die Kraft solcher Raumfantasien hat wie die eigenwilligen Physiognomien der Darsteller wesentlichen Anteil an der Filmerzählung, die episodisch strukturiert ist. Mit Logik ist ihr nicht wirklich beizukommen; surreale Einsprengsel, die vage an David Lynch erinnern, brechen immer wieder in die Geschichte ein, und was Franzen an Erkenntnissen zu vermitteln hat, ist mehr emotionaler als rationaler Natur. Die Verortung der Handlung im Flensburger Raum ist zwar konkret, und der Film ist nicht zuletzt auch eine Hommage an die Landschaften und Menschen dort. Doch der mythische Assoziationshof, den einzelne Bilder und Motive mit sich bringen, weitet die Handlung ins Überpersönliche, und Franzen gelingt es, Ding-Symbole zu etablieren, die im Lauf des Films jenseits des rein Materiellen Bedeutung annehmen – so z.B. das Hörgerät, das Momme seinem toten Vater abnimmt und ab dann immer bei sich führt, als eine Art Kommunikationsmedium mit dem Totenreich. Der Film besticht als bildgewaltige, sorgfältig komponierte und doch offene Reflexion über menschliche Grenzerfahrungen, wobei die skurrile Komik, die sich immer wieder Bahn bricht, die Melancholie konterkariert und die hoffnungsvolle Liebesgeschichte zwischen Momme und Lena den großen Themen Sterben und Verlust entgegengehalten wird.
Kommentar verfassen