Ein junger Streuner aus einer belgischen Kleinstadt verkauft den Säugling, den seine Freundin geboren hat, an einen Kinderhändler. Erst als sich die junge Frau von ihm zurückzieht, beginnt er, sein Handeln zu hinterfragen. Der unaufdringlich und sensibel inszenierte Film handelt im Kern vom Erwachen des moralischen Bewusstseins, wobei das humane Drama durch seine dynamische Kamera und authentische Darsteller eine hohe Unmittelbarkeit gewinnt. Am Rande taucht auch die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen auf, die für die geschilderten Verhältnisse verantwortlich sind. (Kinotipp der katholischen Filmkritik)
- Sehenswert ab 14.
L'enfant
Drama | Belgien/Frankreich 2005 | 95 Minuten
Regie: Jean-Pierre Dardenne
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- L' ENFANT
- Produktionsland
- Belgien/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Les Films du Fleuve/Archipel 35
- Regie
- Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
- Buch
- Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
- Kamera
- Alain Marcoen
- Schnitt
- Marie-Hélène Dozo
- Darsteller
- Jérémie Renier (Bruno) · Déborah François (Sonia) · Jérémie Segard (Steve) · Olivier Gourmet (Polizist in Zivil) · Fabrizio Rongione (junger Dieb)
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Seraing, eine schmucklose ostbelgische Kleinstadt an der Maas. Hier spielen seit 1996 („La Promesse“, fd 32 891) alle Filme der Brüder Dardenne. Die Melange aus Tristesse, schleichender Verelendung und wenig intakter Industrie scheint von den Protagonisten Besitz zu ergreifen, in ihr Leben einzusickern und ihnen kaum noch Freiräume zu lassen. Auch für die 18-jährige Sozialhilfeempfängerin Sonia und ihren 20-jährigen Freund Bruno, der sich mit Gaunereien durchs Leben schlägt und als Kopf und Hehler einer Kinderdiebesbande fungiert, sieht das Leben wenig rosig aus. Oberflächlich betrachtet, scheinen sie ihr karges Leben zu akzeptieren, ja, zu genießen. Bruno ist ein Meister der kleinen Fluchten; immer wieder gelingt es ihm, Geld aufzutreiben, das dann für unnötige Anschaffungen aus dem Fenster geworfen wird, und immer wieder kann er Sonia in die Kindheit zurücklocken. Dann balgen sie sich am Ufer der Maas wie verspielte Katzen, und es scheint kein Morgen zu geben. Doch diese Art einer fragwürdigen Lebenskunst findet ein jähes Ende, als sich ein wirkliches Problem einstellt: das Kind.
Sonia ist mit Jimmy niedergekommen und macht sich auf die Suche nach dessen Vater, der zwischenzeitlich die gemeinsame Wohnung untervermietet hat und in einem Container am Fluss lebt; beharrlich weigert er sich, die Existenz seines Sohns zur Kenntnis zu nehmen. Unfähig, das Kind in den Armen zu halten, versucht er, zumindest an der Oberfläche zu funktionieren. Ein schicker Kinderwagen ist rasch besorgt, die kleine Familie lässt sich scheinbar unbeschwert durch Seraing treiben – doch in Bruno gärt es. Als beide einen Termin beim Sozialamt wahrnehmen müssen und Sonia sich in die Warteschlange einreiht, schiebt Bruno Jimmy durch die Straßen und nimmt Kontakt mit seiner Hehlerin auf, die ihm ein lukratives Angebot scheinbar adoptionswilliger Familien unterbreitet hat. Wenig später ist Jimmy verkauft, und der Vater glaubt, das Geschäft seines Lebens gemacht zu haben, schließlich ist man noch jung und kann ohne weiteres ein neues Kind „ausbrüten“. Doch er hat die Rechnung ohne Jimmys Mutter gemacht. Sonia erleidet einen Zusammenbruch und versucht, jeden weiteren Kontakt mit ihm zu vermeiden. Völlig auf sich gestellt, kauft der Vater sein Kind zurück, muss nun aber eine „Maklerprovision“ an die Kinderhändler zahlen, die seine rudimentäre Lebensplanung mit einer zusätzlichen Hypothek belastet, was ihn vor unlösbare Probleme stellt. In seiner Not verlegt er sich mit einem jugendlichen Mitglied seiner Bande auf Handtaschendiebstähle, doch bereits der erste Raubzug schlägt fehl. Nach einer hartnäckigen Verfolgungsjagd suchen die beiden Täter Schutz in den Fluten der winterlichen Maas, wobei der Mitstreiter fast zu Tode kommt. Bruno kann ihn retten und versorgen, doch die Verhaftung des Komplizen ist unausweichlich. Erst als der Junge abgeführt wird, scheint ein Ruck durch Bruno zu gehen: Er stellt sich der Polizei und nimmt alle Schuld auf sich. In der letzten Einstellung sieht man Sonia, die auf Distanz geblieben ist, und Bruno in der Kantine des Gefängnisses. Sie trinken Kaffee, sind einander wieder gut, und Bruno, ein spätes Einsehen signalisierend, weint seine Schuld aus sich heraus.
Obwohl im Augenblick verortet, haben die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit „L'enfant“ eine zeitlose Geschichte geschaffen, die ihr überaus sensibles Wesen immer wieder hinter einer rauen Schale zu verstecken versucht. Die ausgebleichten Farben des Films verstärken die Tristesse der Erzählung, und wann immer die meist halbnah operierende Kamera, die das Geschehen distanziert einfängt, die Privatsphäre ihrer Protagonisten zu akzeptieren scheint und den Gesichtern der Hauptdarsteller auf die Pelle rückt, vermitteln sich Ratlosigkeit und Verzweiflung. Eine gewisse Ambivalenz erhält der Film durch den Umstand, dass er in Belgien spielt, wo der „Verkauf“ von Kindern sich nicht ausschließlich an kinderlose Ehepaare richtet. Auch hier schwingt ein gewisses Maß an Unbedarftheit und Naivität mit. So wird der Zuschauer gleich mehrfach mit einem Schwebezustand zwischen Kindheit und der Schwelle zum Erwachsensein konfrontiert, der zur Entscheidung zwingt; zur Übernahme von bedingungsloser Verantwortung für andere. Bruno, der Antiheld, tut sich in diesem Punkt besonders schwer, aber wann immer man sein verzweifeltes Gesicht sieht, kann man hinter die Stirn des Straßenjungen schauen, der nicht eigentlich „böse“ ist, sondern unter seiner Hilflosigkeit leidet und gerne im Zustand der Kindheit verharren würde. Die Brüder Dardenne führen Kinder vor, die keine Kindheit erlebt haben und deren Eltern auf der ganzen Linie versagt haben, und stellen die Frage, wie diese Menschen ihren Aufgaben gerecht werden können. Die Antwort des unaufdringlichen, sensiblen Films lautet: durch Liebe, Vertrauen und Zuversicht.
Das mag sich banal anhören, führt aber generelle Probleme einer perspektivlosen Gesellschaft auf ihre Übersprünge zurück und verweist über das individuelle Schicksal hinaus auf soziale Bedingtheiten, denen der Einzelne nur durch individuelle Entscheidungen entkommen kann. Die Annahme des „kleinen Glücks“ bleibt so immer noch dem Einzelnen überlassen und kann zu einer Mikrostruktur in einer Welt führen, die den Überblick verloren hat und in der Kopflosigkeit den (Lebens-)Plänen den Rang abzulaufen droht. Ursprünglich war der Film mit dem Arbeitstitel „Der Vater“ konzipiert, doch „Das Kind“ trifft das Thema weit genauer und eröffnet vielschichtigere Deutungsmöglichkeiten. Denn das Kind ist nicht nur der Säugling Jimmy, der in allen Belangen seinen Eltern ausgeliefert ist, das Kind könnte genauso Bruno sein, der seinem Traum vom Leben im Hier und Jetzt fast bis zur letzten Minute nachhängt. Oder ist das Kind der 14-jährige Dieb, der Bruno fast unter den Händen stirbt, und dessen Schicksal die Wandlung einleitet? Den Dardennes ist ein Film gelungen, der der Gesellschaft einen Spiegel vorhält und der nichts beschönigt. Er zeigt das Bild einer zunehmend infantileren Gesellschaft, deren Kinder absurder Weise immer früher in die Rolle von Erwachsenen gezwungen werden; und er zeigt die Abwesenheit einer gesellschaftlichen Kontrollinstanz, die die jungen und alten Kinder sich selbst überlässt – scheinbar liegt das Heil im Bekenntnis zur eigenen Liebesfähigkeit.
Kommentar verfassen