Winterkinder (2005)

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 99 Minuten

Regie: Jens Schanze

Dokumentarfilm, in dem der Regisseur das wahre Wesen seines Großvaters, eines überzeugten SA-Mannes, zu ergründen versucht, der in der Erinnerung seiner Kinder bis zum heutigen Tag verklärt wird. Erst durch beharrliches Nachfragen, unter Zuhilfenahme von Dokumenten, Briefen und Archivmaterial, wird das Bild des Großvaters revidiert. Auch die Mutter des Filmemachers, die sich über weite Strecken weigert, die Wahrheit zuzulassen, zeigt am Ende ein spätes Einsehen. Der beeindruckende Film enthüllt ein ungeschöntes Bild der Vergangenheit, wobei sich sein Herstellungsprozess als schmerzhafte Form einer Familientherapie erweist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Jens Schanze Filmprod./BR/ZDF-3sat
Regie
Jens Schanze
Buch
Jens Schanze
Kamera
Börres Weiffenbach
Musik
Erik Satie
Schnitt
Jens Schanze
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Sunfilm (1:1.85/16:9/Dolby Digital 2.0)
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Diskussion
„Der Mörder war unter uns“ oder „Die Mörder sind immer die anderen“ könnte der Abschlussfilm des 34-jährigen Absolventen der HFF München Jens Schanze auch heißen. Nach „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ (fd 36 995) ist „Winterkinder“ eine weitere autobiografische Spurensuche nach in die NS-Zeit zurückreichenden familiären Traumata und den Gründen für einen Phantomschmerz, der über Generationen hinweg anhält. Schanze hat einen aufwühlenden, über weite Strecken quälend intimen Dokumentarfilm über seine Familiengeschichte gemacht, darüber, wie die Mutter und die fünf Enkel heute, 60 Jahre nach Kriegsende, zu ihrem Vater und Großvater stehen, einem glühenden Nazi der ersten Stunde, SA-Mann und überzeugter Antisemit, der bis kurz vor der Kapitulation in Niederschlesien ausharrte, bevor er die Frau allein mit den Kindern in den Westen flüchten ließ. 1954 starb er im Schoß der wiedervereinten Familie und hinterließ im Gedächtnis der Tochter ein reichlich verklärtes Bild vom fürsorglichen und moralisch integren Patriarchen, der für seine Überzeugungen einstand und nie einen Menschen eigenhändig umgebracht hat. Einzelheiten über seine politischen Aktivitäten muss Schanze der sichtlich hin und her gerissenen, um Loyalität gegenüber dem Vater kämpfenden Mutter mit viel Beharrlichkeit entlocken und all das, woran sie sich angeblich nicht erinnern kann, erfährt er aus den zahlreichen Briefen des Großvaters, die er aus dem Off selbst vorliest. Es sind Berichte von Hetzreden, die der Großvater bei lokalen Parteitreffen gehalten hat, Durchhalteparolen und Liebesschwüre auf den Führer. In einem Brief der Großmutter findet sich sogar ein Hinweis auf Konzentrationslager in ihrer unmittelbaren Nähe, in denen Tausende Juden eingesperrt seien, die sich nach einer Befreiung durch die Russen fürchterlich rächen würden. Anhand von Familienfotos, Dokumenten und Archivbesuchen setzt Schanze ein anderes Bild des Großvaters zusammen und sucht in den Gegenschnitten das Gespräch mit den älteren Schwestern. So kommen Erinnerungen an eine von emotionaler Kälte und bleierner Stille geprägte Kindheit zum Vorschein, ein unausgesprochenes Redeverbot über den Krieg, ein Verschleiern und ein Beschönigen und eine latente Lebensangst, die von der Mutter infolge der traumatischen Fluchterlebnisse an die Kinder weitergegeben wurde. Es ist erschütternd zuzusehen, wie die Schwestern an der nie stattgefundenen Aussprache leiden, den Tränen nahe sind, und auch der Mutter ist das unbewusste Wissen über die Schuld des Vaters im Verlauf des Films immer deutlicher ins Gesicht geschrieben. Schanze begleitet diesen Prozess der Revision unhaltbarer Familienmythen bewundernswert geduldig, sucht nie Befreiung durch verurteilende Konfrontation und geht ganz in der Rolle des nach Einsicht und Erklärungen für das kollektive Schweigen suchenden Nachgeborenen auf. Die Reise in die bis heute präsente Vergangenheit führt ihn und die Eltern mitten im Winter in die verlorene Heimat. Dem Besuch in der großelterlichen Wohnung, die seit 30 Jahren von einer polnischen Familie bewohnt wird, folgt ein Spaziergang über das zugeschneite Gelände des KZ Großrosen, wo die Mutter trotz der sichtbaren Fassungslosigkeit immer noch die Hoffnung kund tut, dass ihre Eltern von dem Massenmord vor der eigenen Haustür nichts gewusst haben können. Das Wort „Täter“ fällt aus ihrem Mund bis zum Schluss nicht. Trotzdem scheinen die vereisten Familienbindungen dank der durch den Film erzwungenen Auseinandersetzung aufgetaut, festgefahrene Verhaltensweisen aufgebrochen. Vereint auf einer sommerlichen Wiese in Niederschlesien ist sich die Familie näher denn je, auch wenn viele Fragen immer noch offen bleiben. Ein ungeschöntes und bewegendes Plädoyer der Enkelgeneration für die in vielen deutschen Familien immer noch nötige Reinigung der Affekte und den Mut, Fragen nach der Vergangenheit zu stellen.
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