Der Filmemacher Malte Ludin macht sich auf die Suche nach Spuren seines Vaters, der 1947 als NS-Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt wurde. Sein dokumentarischer Film offenbart allerdings weniger die Vergangenheit als vielmehr die Einflüsse dieser Vergangenheit auf die Kinder- und Enkelgeneration, die mit ambivalenten Gefühlen auf das Enigma des Vaters reagieren, zwischen Verdrängung, Anklage und der Sehnsucht nach Entschuldung. Das beeindruckende binnenfamiliäre Psychogramm zeigt, wie unlösbar deutsche Identitäten mit dem Holocaust verbunden sind.
- Sehenswert ab 14.
2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß
Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 89 Minuten
Regie: Malte Ludin
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Svarc. Filmprod./HR/SR/SWR/arte
- Regie
- Malte Ludin
- Buch
- Malte Ludin
- Kamera
- Franz Lustig
- Musik
- Werner Pirchner · Hakim Ludin
- Schnitt
- Iva Svarcová · Malte Ludin
- Länge
- 89 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Diskussion
Das Skandalon, das dieser filmischen Spurensuche ihre Fallhöhe verleiht, formuliert der Filmemacher Malte Ludin selbst als Prolog: „Dies ist die Geschichte meines Vaters, eines Kriegsverbrechers. Eine typisch deutsche Geschichte.“ Der Vater Hanns Ludin, ein Reichswehroffizier, konspirierte früh mit Hitler. Nach 1933 stieg er innerhalb der südwestdeutschen SA schnell auf, wurde Obergruppenführer und ab 1941 deutscher Gesandter in der Slowakei. Ludin war ein überzeugter Anhänger der NSDAP und von Bratislawa aus an der Organisation des Holocaust zumindest mitbeteiligt. Nach dem Krieg wurde Ludin von den Amerikanern verhaftet und später an die Tschechoslowakei ausgeliefert. Dort verurteilte man ihn 1947 als Kriegsverbrecher zum Tode.
Die Familie, Frau und sechs Kinder, erleben zunächst die Abwesenheit und später das Verschwinden des Vaters als Trauma, als „bösen Traum“; sie beginnen, sich ihren Reim auf seine Geschichte zu machen. Material dafür ist reichlich vorhanden: Malte Ludin blättert durch Familienalben, sieht seinen Vater auf Fotos immer wieder neben der Führungselite der NSDAP, neben Hitler, Göring, Heydrich und Goebbels. In Archiven findet man Dokumente, in denen Ludin nach Berlin meldete, dass sich die katholische Kirche über Massenerschießungen von Juden in der Ukraine beschwere. Es gibt auch Tonbandaufzeichnungen mit Reden Ludins: Man hört die Stimme des Toten von der Befreiung der deutschen Nation künden. In einem Brief beschreibt der SA-Mann seine Begeisterung für Hitler, dessen „Ziele unbedingt groß“ und dessen „Wollen rein sei“. Und da sind SA-Morde, die Ludin offenbar gedeckt hat. Man spürt bei diesem Ausbreiten von (belastendem) Material, wie sich hier eine Persönlichkeit formt, wie ein Mensch seinen Ort in der NS-Bewegung findet. Seine Ehefrau, die Mutter des Filmemachers, die dieser schon 1978 vor laufender Kamera zum Vater befragte, schließt aus, dass der Vater sich „aus Karrieregründen“ der Partei angeschlossen habe.
Malte Ludin, 1941 geboren, wagte sich lange nicht an diese Familiengeschichte heran; mittlerweile sind die Mutter Erla und auch zwei ältere Geschwister gestorben: Erika pflegte einen selbstzerstörerischen Hang zum Alkohol, Tillmann floh nach Südafrika und verleugnete seinen Vater. In intensiven und bisweilen fast unangenehm insistierenden Gesprächen begibt sich Malte mit seinen Schwestern Bärbel (*1935), Ellen (*1937) und Andrea (*1943) auf eine Spurensuche, in der das Enigma des Vaters zwar als leeres Zentrum fungiert, aber nicht zum Fluchtpunkt wird. In „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ geht es nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart der Vergangenheit in den Köpfen und Herzen der (Über-)Lebenden, wobei die Pointe ist, dass die Ereignisse und Entscheidungen, die hier verhandelt werden, teilweise über 60 Jahre zurück liegen. Man bekommt also das binnenfamiliäre Psychogramm eines kollektiven Beschweigens präsentiert, das mittlerweile längst die nächste (Enkel-)Generation erreicht hat. Wie in einem präzisen Déjà-vu werden eine Vielzahl von Verhaltensweisen der „Täterkinder“ vorgestellt: das Vergessen und Verdrängen, das Aufrechnen und das Beschönigen, das Bestreiten und das Sich-Distanzieren und – in der Person des Filmemachers – auch der forcierte Impetus des selbstquälerischen und quälenden Aufklärers. Immer wieder versucht Malte Ludin seine ältere Schwester, die „unerschütterliche“ Bärbel, dazu zu bewegen, sich die Schuld des Vaters einzugestehen. Die reagiert mal routiniert, mal wütend, dann aber auch hilflos: „Maltechen, der Rächer der Entrechteten!“
Der Film versammelt viele Puzzleteilchen: Da gibt es die väterliche Linie des Hangs zu Romantik und Mystizismus, da gibt es den völkischen Idealismus der Jugendbewegung der Jahrhundertwende, da gibt es die selbstbewusste junge Frau Erla, die nach der Heirat mit Hanns Ludin nur noch die Rolle der Ehefrau des SA-Führers kennt. Gerade die Rolle der Ehefrau und Mutter bleibt bedenklich. Als Hitler im Rahmen des sogenannten Röhm-Putsches mit der SA abrechnet, scheint dies Ludin nicht angefochten zu haben, obschon enge Freunde von ihm der Nacht der langen Messer zum Opfer fielen. Doch, sagt die Mutter, der Vater sei schon verzweifelt gewesen, aber sie habe ihn bestärkt: „Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Auch, als Hanns Ludin gegen Kriegsende in einer tiefen Krise steckte, hat seine Frau ihm erklärt, dass es doch auch viel Positives gäbe. Hat die Frau ihren Mann gewissermaßen in die Pflicht genommen? Symptomatisch kann Malte Ludin den ganzen Katalog der Entschuldung aufzeigen: Hanns Ludin hat nichts gewusst vom Holocaust, Hanns Ludin hat idealistisch seine Pflicht getan, hat Befehle befolgt, war ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe, hat jedenfalls nach Aktenlage keine Eigeninitiative gezeigt, ist vielleicht ein Schreibtischtäter, aber kein Mörder, hat sogar versucht, in Einzelfällen zu helfen. „2 oder 3 Dinge“ offenbart die Gefühlsambivalenzen der Täterkinder: eine widersprüchliche Mischung aus Wut, Trauer, Hilflosigkeit und Verdrängung. Die Form der „oral history“, soviel wird schnell klar, hat es mit routinierten Diskurspartikeln zu tun, die über die Jahre gewachsen sind, weil sie für die jeweilige Identitätskonstitution entscheidend waren. Mit Projektionen, Legenden und Halbwahrheiten ist hier jederzeit zu rechnen. Wenn Horst Köhler einen Beleg für die psychohistorische Tragweite seines jüngst in der Knesset formulierten Satzes „Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität“ benötigt hätte, würde er diesen in der Geschichte und Gegenwart der Familie Ludin exemplarisch finden.
Und was ist mit Hanns Ludin? Dafür findet kurz vor Schluss Malte Ludins Neffe Fabian eine produktive Formel: Hanns Ludin habe für eine Ideologie gelebt und sei auch dafür gestorben. Das sei sein Leben gewesen. Wenn man nun daran gehe, die dunklen Flecken zu verwischen, dann konstruiere man eine Figur, rekonstruiere aber nicht die konkrete Person. Vielleicht geht es genau darum: Wichtig ist nicht Hanns Ludin, sondern der Versuch, aus Hanns Ludin einen „Vater“ zu machen – in einer „vaterlosen Gesellschaft“ (Mitscherlich). Insofern ist „2 oder 3 Dinge“ ein atemberaubender Fantasyfilm.
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