Drama | Afghanistan/Japan/Irland 2003 | 82 Minuten

Regie: Siddiq Barmak

Der erste afghanische Spielfilm nach dem Sturz der Taliban erzählt die Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens, das, von der Mutter als Junge verkleidet, für den Lebensunterhalt der Familie sorgen muss. In dichten, mitunter fast schon etwas zu ausgeklügelten Bildern beschreibt der Regisseur die Auswirkung der Schreckensherrschaft auf die Frauen, wobei er in der Hauptdarstellerin und anderen Laiendarstellern Personen gefunden hat, die ihre eigenen Erfahrungen auf beeindruckende Weise in den Film einbringen. Trotz des tragischen Finales verkündet der Film die unbezwingbare Hoffnung auf Veränderung und Freiheit. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
OSAMA
Produktionsland
Afghanistan/Japan/Irland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Barmak Film/LeBrocquy Fraser Prod./NHK/Swipe Films
Regie
Siddiq Barmak
Buch
Siddiq Barmak
Kamera
Ebrahim Ghafori
Musik
Mohammad Reza Darvishi
Schnitt
Siddiq Barmak
Darsteller
Marina Golbahari (Osama) · Arif Herati (Espandi) · Zubaida Sahar (Mutter) · Gol Rahman Ghorbandi · Mohamad Haref Harati
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Al!ve (16:9, 1.85:1, DD2.0 paschtu/dt.)
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Diskussion
Dass es heute noch möglich ist, einige der ohnehin wenigen Hervorbringungen des afghanischen Kinos vor der Taliban-Zeit kennen zu lernen, ist vor allem dem Mut der Mitarbeiter der staatlichen Afghan Film zu verdanken. Diese hatten sich in den Jahren des Terrors, in denen ein absolutes Bilderverbot herrschte und alle Kinos und Videotheken geschlossen wurden, zu einer lebensgefährlichen Aktion entschlossen: In den Bunkern ihres Archivs zogen sie falsche Wände ein, beschrifteten diese mit Koran-Suren und retteten auf diese Weise rund 8.000 Filmrollen vor der Vernichtung. Zu jener Zeit befand sich der seit 1992 amtierende Direktor von Afghan Film, Siddiq Barmak, im Exil. Nach dem Sturz der Taliban kehrte er nach Kabul und in seine berufliche Funktion zurück. Dank der Hilfe des iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf, der ihm auch Kontakte zu japanischen und irischen Produzenten ebnete, drehte Barmak nun den ersten langen Spielfilm nach dem Ende der Taliban-Herrschaft. Mit „Osama“ setzt er, wenn man diese Arbeit als Gleichnis nimmt, auch den Kollegen von Afghan Film ein Denkmal. Denn auch hier geht es um ein Camouflage, eine „barmherzige Lüge“, mit der die Gesetze der Schreckensherrschaft unterlaufen werden. Hauptfigur ist ein zwölfjähriges Mädchen, dessen Vater im Krieg gegen die Sowjetunion fiel und dessen Mutter dem Arbeitsverbot der Frauen unterworfen ist. Als auch ihre illegale Beschäftigung in einem Krankenhaus unmöglich wird, greift sie, um den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern, zum letzten Strohhalm: Der Tochter werden die Haare abgeschnitten; sie muss als „Junge“ unter dem Namen Osama Geld verdienen und gerät in immer wieder neue Umgebungen.

Die Stationen dieser Odyssee sind von Barmak wirkungsvoll in Szene gesetzt. So wird schon in den Eröffnungsbildern deutlich, in welcher Gefahr die afghanischen Frauen schweben: Die Taliban, noch am Beginn ihrer Herrschaft, fahren schwere Geschütze gegen Demonstrierende auf; ein Vorgang, der die Mutter zu dem Satz veranlasst, sie wünsche, es gäbe keine Frauen. Dieser Verzweiflung entspricht die Farbgebung des Films: Zu sehen ist ein Land ohne Grün, dafür aber mit grauen Mauern. In den Blumentopf „pflanzt“ das Mädchen einen Büschel ihrer Haare: ein symbolisches Motiv, das die innere Befindlichkeit der Hauptfigur illustriert, das allerdings etwas ausgeklügelt und auf die Gefühlswelt des westlichen Betrachters ausgerichtet wirkt. Es gibt noch andere Szenen, mit denen Barmak Zugeständnisse an internationale Sehgewohnheiten macht: unnötig etwa ist die Figur eines ausländischen Reporters, der anfangs die Frauendemonstration filmt und später dafür zum Tode verurteilt wird; dass der Zuschauer die Eröffnungsbilder gleichsam aus der Hand des „Fremden“ offeriert bekommt, ist dramaturgisch unbegründet. Auch die Figur eines kleinen Stadtstreichers, der die Verwandlung des Mädchens durchschaut, es aber nicht verrät, sondern vor Zudringlichkeiten schützt, wirkt unglaubwürdig.

„Osama“ ist dagegen ganz bei sich, wenn der Film sich ohne Umschweife auf seine Hauptfigur, vor allem auf das Antlitz der Laiendarstellerin Marina Golbahari konzentriert. In ihren Augen spiegelt sich das Leid der afghanischen Frauen und Mädchen: Trauer, Angst und eine unendliche Müdigkeit. Besonders die Szenen in der Koranschule, in die der vermeintliche Junge von Taliban-Milizen verschleppt wird, sind von faszinierender Kraft. Dabei zeigt Barmak zunächst keineswegs die Hölle auf Erden; im Gegenteil: Solange die Mullahs – und ihre Schüler – unter sich sind, wird mit religiösen Lehren auch Lebenskunde vermittelt, und dies auf durchaus anrührende Weise. Um so erschreckender dann aber das Geschehen nach der Entdeckung, dass sich ein Mädchen unter den Männern befindet. Die Zärtlichkeit gegenüber den „Ihrigen“ schlägt in physischen und psychischen Terror gegenüber der „Lügerin“ um. Das Scharia-Gericht zwingt sie zu einer Heirat mit einem alten, bereits mehrfach verehelichten Mann. Als Hochzeitsgeschenk erhält sie ein Kettenschloss, das ihre Zukunft zu besiegeln scheint.

Siddiq Barmak hat seinem Film ein Zitat von Nelson Mandela vorangestellt: „Ich werde verzeihen. Aber ich werde nie vergessen.“ Ein Motto, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft reicht, keinen endgültigen Schlussstrich duldet. Zugleich vermittelt „Osama“ die Zuversicht, dass es, trotz aller Gewalt, nie möglich sein wird, den Freiheitsdrang des Menschen endgültig zu besiegen. Dafür sprechen die in den Pausen ungehemmt tobenden Schüler der Koranschule ebenso wie die Teilnehmer einer Hochzeit, die trotz strengen Verbots ihr Fest feiern. Auch die Heldin wird nicht gefesselt und geknechtet aus dem Film entlassen, sondern mit dem visionären, mehrfach verwendeten Traumbild des Seilspringens im Gefängnis. Immer, wenngleich mitunter nach schrecklichen Umwegen, siegt die Bewegung über die Erstarrung, die Menschlichkeit über den Terror. Auch das teilt „Osama“ mit.

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