Es ist schon erstaunlich, dass ein routinierter Regisseur, der im besten Sinne altmodische Filme, also Filme ohne besondere Kamera-Bewegungen, Spezialeffekte oder schnelle Schnitte, dreht, trotzdem immer wieder überraschen kann. Das Neue an „Mystic River” ist, dass Clint Eastwood (Jhrg. 1930) nicht eine Hauptfigur geradlinig verfolgt, sondern gleich drei – und dass keiner wirklich im Mittelpunkt steht. Auch hat er den Krimi-Bestseller von Dennis Lehane nicht geradlinig als typischen Psychothriller angelegt, sondern als einen Film mit vielen Widerhaken, in dem unterdrückte Gefühle und Erinnerungen die wahren Spannungstreiber sind – vor allem bei den Männern. Als Kinder waren Dave, Sean und Jimmy ein Herz und eine Seele – bis sie bei einem Dumme-Jungen-Streich in ihrem Bostoner Arbeiterviertel erwischt wurden, wie sie ihren Namen in den frischen Zement in die Straße schrieben. Einer von ihnen, Dave, wurde daraufhin von einem Mann, der wie ein Polizist auftrat, in ein Auto gezerrt, entführt und wahrscheinlich vergewaltigt. Was genau geschah, erfährt man nicht, gerade deshalb ist diese verspielt- ernste Anfangssequenz so mitreißend. Die drei haben sich danach nie wieder gesehen. Bis sie 25 Jahre später ein Mordfall zusammenführt.
Dave ist der arbeitslose Tatverdächtige, den der Polizist Sean verhört, als er versucht, den Mord an Jimmys 19-jähriger Tochter aufzuklären. Dave hat sich nie von seinem Kindheitstrauma erholt, er lebte lange mit seiner Mutter zusammen, hat nichts Ordentliches gelernt und ist ein sehr verschlossener Mann. Zwar hat er nach dem Tod der Mutter geheiratet und mit Celeste eine feinfühlige Frau gefunden, macht aber nie den Eindruck, dass er etwas vom Leben erwartet; dafür ist er zu passiv und depressiv. Jimmy wurde erst ein erfolgloser Krimineller, der auch im Gefängnis saß, bevor er ein neues Leben begann, in dem alten Bostoner Stadtviertel einen Lebensmittelladen eröffnete, mit seiner Frau Annabeth, der Kusine von Celeste, und Tochter Katie zufrieden ist. Als Katie nachts im Park ermordet wird, erwachen in ihm alte kriminelle Neigungen und Rachegelüste. Sean, der erfolgreiche Polizist, kann den wütenden Vater kaum bändigen und gibt sich nach außen gegenüber seinem Polizei-Partner Whitey ganz cool bei den Ermittlungen, um seine privaten Probleme zu kaschieren. Seine Frau hat ihn verlassen, aber er lässt sie nicht in Ruhe, ruft sie immer wieder an – auch wenn sie am anderen Ende der Leitung nur schweigt – und offenbart dadurch, wie sehr er aus der Bahn geworfen wurde. Doch all diese unbewältigten Erlebnisse und Erfahrungen kommen erst nach und nach ans Licht. Wie bei jedem guten Krimi dauert es eine Weile, bis man sich auf den eher zufällig hingeworfenen Puzzle- Stücken seinen Reim machen kann. Dabei wirkt der Mordfall wie ein Vorwand, hinter die Fassaden der Hauptfiguren zu schauen, wo sich immer neue Rätsel auftun, sich Alibis und Geständnisse als falsch erweisen, sämtliche Familien- und Freundschaftsbande (auch die der beiden Polizisten) auf eine harte Probe gestellt werden und es immer wieder um die Frage geht, wie Gewalt entstehen kann.
Mehr als in seinen letzten Filmen legt Clint Eastwood bei „Mystic River“ (so wird der durch Boston fließende Fluss genannt) große Sorgfalt darauf, die Charaktere zu entwickeln, ihr Milieu und die besondere Atmosphäre der Stadt zu zeichnen. „Mystic River“ ist von seiner Grundstimmung her ein düsteres Werk, zuweilen auch in seinem Farben. Allein deshalb erinnert es stark an „Sadistico“ (fd 11 713) und Eastwoods überzeugende Spätwerke „Erbarmungslos“ (fd 29 800) und „Perfect World“ (fd 30 587), aber auch an seine anderen Filmen, in denen ein Mann versucht, einen emotionalen Schock zu verarbeiten, auf welche Weise auch immer. Auch in „Mystic River“ – Eastwood spielt nicht mit, hat aber die Musik komponiert – geht es um Einzelgänger und die seelischen Abgründe und Gefühle, die in jedem stecken, jahrelang unterdrückt wurden und erst durch äußere Umstände ans Tageslicht kommen, obwohl sie doch das ganze Leben bestimmen. Dass dies deutlich wird, ist zu einem Großteil Eastwoods hervorragender Darstellerriege zu verdanken, allen voran Sean Penn, der glaubwürdig den zerrissenen, rasenden Vater spielt. Eastwood lässt oft die Kamera aus einer gewissen Distanz auf den Gesichtern ruhen, denn Penn, Bacon, Robbins & Co schaffen es, dem Film die nötige Spannung zu geben. Wenn Robbins depressiv auf der Treppe vorm Haus sitzt oder Penn ihn verzweifelt und den Tränen nahe anbrüllt, weil er ihn für den Mörder seiner Tochter hält, dann hat der Film seine stärksten Momente. Es sind solche packenden Szenen in einer glaubwürdigen Atmosphäre, für die Eastwood berühmt ist. Hier sind sie wegen der komplexen Struktur und dem permanenten Springen zwischen den Haupt- und Nebenfiguren noch wichtiger.
„Mystic River“ mit seinem ungewöhnlichem Blick auf die amerikanische Gesellschaft wirkt länger im Kopf des Zuschauers nach als andere Filme Eastwoods, nicht nur weil die düstere Geschichte mit einer Parade am Columbus Day genauso harmlos endet wie sie mit dem Jungenstreich begonnen hat und alles dazwischenliegende wie einen bösen Horrorfilm erscheinen lässt. Diesmal sind alle Figuren des Films Opfer und Verlierer, die den Halt im Leben wieder neu finden müssen. Jeder für sich.