Paule und Julia

- | Deutschland 2002 | 86 Minuten

Regie: Torsten Löhn

Ein Berliner Straßenjunge verliebt sich in eine etwas ältere Gymnasiastin aus bürgerlichem Haus. Was sich für die Schülerin wie ein abenteuerliches Spiel in einer aufregend fremden Welt ausnimmt, verändert nachhaltig das Leben des Jungen, der sich immer mehr in eine Traumwelt verrennt. Der sensibel beobachtende Debütfilm erzählt mit bewundernswerter Leichtigkeit von Nöten der ersten Liebe und damit von einem harten Stück Leben. Am meisten besticht das teils nüchtern, teils poetisch entfaltete Pubertätsdrama durch seine Stilsicherheit. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Ziegler Film
Regie
Torsten Löhn
Buch
Torsten Löhn · Christoph Roos
Kamera
Frank Amann
Musik
Lars Löhn
Schnitt
Nicola Undritz
Darsteller
Marlon Kittel (Paule) · Oona Devi Liebich (Julia) · Arnel Taci (Arnel) · Karina Fallenstein (Hanne) · Oliver Stern (Dr. Behringer)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
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Diskussion
Eine Handkamera beobachtet mit unruhigen Bildern einen perfiden Ladendiebstahl: Der 15-jährige Straßenjunge Paule und sein jüngerer Freund, der Bosnier Arnel, durchforsten die Schmuckabteilung eines Kaufhauses und lenken die Aufmerksamkeit der Detektive ab, indem sie kurzfristig einen Kinderwagen entführen. Als es dem kleinen Arnel gelingt, die Kasse zu leeren, flüchten sie. Dieses kleine Meisterstück der Kameraführung und rasanten Montage, untermalt von atmosphärisch-düsterer Musik, markiert den Anfang des ersten Spielfilms des Berliner Filmemachers Torsten Löhn. „Auslöser für den Film war für mich die Begegnung mit einem jugendlichen Kleinkriminellen aus dem Osten Berlins,“ sagt Löhn. „Das Authentische blieb wichtig, egal, ob beim Schreiben, beim Casting der Jugendlichen oder beim Drehen. Gleichzeitig sollte es immer eine Geschichte bleiben – ein Spiel. Das hat freier gemacht und manchmal ermöglicht, von einem harten Stück Leben mit Leichtigkeit zu erzählen.“ Dass Löhn diese Leichtigkeit nicht mit modischer Ironie-Geste verwechselt, muss man ihm uneingeschränkt zugute halten. „Paule und Julia“ – ein Titel, der etwas pathetische Erwartungen weckt, vielleicht gar eine zeitgenössische „Romeo und Julia“-Variante im Stil von „alaska.de“ (fd 34 678) erwarten lässt. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch, und doch werden die klassischen Akzente zugunsten der zentralen Charaktere verschoben: Paule ist ein Straßenkind, er schwänzt die Schule, verdient sich sein Taschengeld durch kleine Raubzüge, bei denen ihn der zwölfjährige „Illegale“ Arnel begleitet. Dieser „verlorene“ Junge, ein Kriegskind aus dem Kosovo, träumt von der Rückkehr in seine Heimat. Seine Situation ist noch auswegloser als die von Paule – und er ist der geheime Kern des Films, um den sich das eigentliche Drama entspinnt. Bei einem Beutezug in der Fußgängerzone überfallen die Jungen die 18-jährige Gymnasiastin Julia, die sich massiv zur Wehr setzt, doch gegen Paules Drohgeste mit einem Rasiermesser nichts ausrichten kann. Paule verliebt sich in das attraktive Mädchen, dessen Tasche er schließlich zurückbringen möchte. Er verfolgt Julia, gibt sich als älter aus und kann tatsächlich das Interesse der Mittelstandstochter wecken, deren Zuhause so anders ist als das seine. Für das abenteuerlustige Mädchen wird die Bekanntschaft mit ihm zum Eintritt in eine aufregende und gefährliche Welt. Wie gefährlich diese wirklich ist, stellt sich erst allmählich heraus: Arnel lässt eine kostbare russische Ikone mitgehen und versteckt sie in Paules Unterschlupf, doch bald kleben die ehemaligen „Besitzer“ des Kunstwerks an seinen Fersen: die Gang seines Cousins. Diese mafia-ähnlich organisierten Gangster fangen den Jungen und foltern ihn. Paule und Julia nehmen sich des blutenden Jungen an, pflegen und verstecken ihn und geraten damit selbst in die Schusslinie der Gangster. Paule muss sich zwischen seinem kriminellen Alltag und jener Traumwelt entscheiden, die er um sich und Julia errichtet hat. Er beschließt, Arnel und dessen Cousins an die Polizei zu verraten – um so Julias Zuneigung sicher zu sein. Doch für das Mädchen war alles nur ein Spiel, das längst nicht zu Ende ist und ein Opfer fordern wird. Torsten Löhn (geb. 1964) war Geisteswissenschaftler, bevor er sich für ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin entschied. 1998 fiel er mit dem kurzen, sensibel beobachtenden Pubertätsdrama „Max und der Ursprung der Welt“ auf, das Ähnlichkeiten mit Wolfgang Beckers „Kinderspiele“ (fd 30 405) hat. Dort wird das sexuelle Erwachen eines Jungen geschildert, der sich in eine Näherin verliebt, jedoch nur mit Verwirrung reagiert, als sich die Frau ihm tatsächlich öffnet. Auch „Paule und Julia“ befasst sich mit den Nöten einer pubertären ersten Liebe, die an ihrer tragischen Einseitigkeit krankt. Für Julia ist Paule eher ein später Spielkamerad, ein kleines Abenteuer, das ihr den Ausbruch aus ihrer bürgerlichen Welt beschert, die sie mit ihrem alleinstehenden Vater teilt. Sie verführt den Jungen zu einem gewissen Grad, doch mit ihm schlafen wird sie nicht. Die Poesie jugendlichen Begehrens inszeniert Löhn eindrucksvoll in einer nächtlichen Schwimmbadszenerie. Dabei hat er sich den Blick des verwirrten und verträumten 15-Jährigen bewahrt, für den das Mädchen ebenso geheimnisvoll wie unerreichbar bleibt. In anderen Momenten bricht er diese Perspektive wieder und ermöglicht einen teils nüchternen, teils poetischen Blick auf die gefährlichen Verwicklungen. Immer wieder schweift der Blick auch ab, betrachtet verfallende Fabrikanlagen, nächtliche Straßen oder einen Schwarm Krähen, untermalt von einer bedrohlichen Klangkulisse. Eher amüsante Momente sind mit den Figuren von Paules Mutter und seinem Onkel verknüpft. Karina Fallenstein und Martin Semmelrogge bekommen vor allem in einer nostalgischen Partysequenz viel improvisatorischen Raum, um ausgelassen das Glück der „kleinen Leute“ zu zelebrieren. Doch solche Momente, in denen offene Lebensfreude durchbricht, sind selten in Löhns stilsicherer, melancholischer Inszenierung. Am Ende steht die menschliche Katastrophe, die der ohnehin chancenlosen jungen Liebe den letzten Rest an Unschuld raubt – befleckt mit dem Blut eines „verlorenen“ Kindes.
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