Ein elfjähriger Junge erfährt in einem schmerzhaften Erkenntnisprozeß die Lieblosigkeit seiner Eltern und ist den Schlägen des jähzornigen Vaters ebenso ausgeliefert wie der Verschlossenheit der Mutter, die den kleineren Bruder vorzieht und die Familie verläßt. Ein in den 60er Jahren angesiedeltes, hervorragend inszeniertes und gespieltes düsteres Drama über den Verlust der Liebe und der untröstlichen Verzweiflung eines Kindes darüber. Weit über den Einzelfall hinausweisend, zeigt der Film, wie Gewalt gegen Abhängige und der Entzug von Liebe einen Kreislauf in Gang setzen, bei dem das Opfer selbst wieder zum Täter wird.
- Sehenswert.
Kinderspiele (1991/92)
Drama | Deutschland 1991/92 | 111 Minuten
Regie: Wolfgang Becker
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1991/92
- Produktionsfirma
- FFG Film- und Fernseh-GmbH/Royal/ZDF
- Regie
- Wolfgang Becker
- Buch
- Horst Johann Sczerba · Wolfgang Becker
- Kamera
- Martin Kukula
- Musik
- Christian Steyer
- Schnitt
- Wolfgang Becker · Ute A. Rall
- Darsteller
- Jonas Kipp (Micha) · Oliver Bröcker (Kalli) · Burghart Klaußner (Michas Vater) · Angelika Bartsch (Michas Mutter) · Matthias Friedrich (Peter)
- Länge
- 111 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Vorort, schäbiges Einfamilienhaus mit Bauruine daneben, 60er Jahre, Sommerferien. Micha, ein sanftes Kind mit einem fast runden, weichen Gesicht, elf- oder zwölfjährig, begabt, hat ein gutes Zeugnis erhalten, will aufs Gymnasium wechseln - und ist ein Fremder in seiner Familie. Sein Vater, Maurer, Polier, schuftet, ist jähzornig, tobt seinen Ärger aus, wobei etliche Gegenstände schon mal kaputt gehen. Besonders Micha muß unter diesen Anfällen leiden. Der Vater, der große starke Mann, gewalttätig, aber mit Moral, unberechenbar, eher ein Feind. Die Mutter bevorzugt den kleinen Bruder, das von den Eltern geliebte Kind. Michas Freund Kalli ist etwas größer, fortgeschritten in der Entwicklung, durchgefallen und durchtrieben, ein Herumtreiber, der schon vieles weiß vom spannenden Leben. Er führt Micha in Mutproben und Sexualität ein: Nacktfotos, von der Schwester gestohlene BH, Blicke durchs Schlüsselloch. Kallis Gelände ist die Abenteuerlandschaft der Kindheit: leere Fabrikhallen, Baugruben, Sandwege und Böschungen am Rande der Stadt.Unversehens verläßt die Mutter mit dem Kleinsten zusammen die Familie, ihr lakonischer Abschiedsbrief ist an den Mann und nicht an Micha gerichtet. Micha wird zum Briefträger zwischen den Eheleuten, dem Vater, der nicht viel mit ihm anfangen kann, der Mutter, die ihn los sein will. Einmal entdeckt er die Mutter in leidenschaftlicher Umarmung mit einem anderen Mann und wünscht sie tot in seinem Entsetzen. Er fälscht Botschaften, um die Familie wieder zusammenzubringen. Eine noch nicht begrabene Hoffnung auf Zuneigung, die sich durch den Augenschein der wahren Verhältnisse nicht beirren läßt. Der Vater entdeckt diesen so begreiflichen frommen Betrug. Als Micha von einem heiteren Badevergnügen mit einem Mädchen aus seiner Klasse zurückkehrt, den Vorschein eines neuen, anderen Glücks auf dem Gesicht, wird er von seinem Vater schrecklich verprügelt. Reflexhaft nimmt er einen Hammer und schlägt zu. Notwehr. Man weiß. daß er mit dem Hammer hervorragend hantieren kann und lange Nägel blitzschnell ins Holz treibt. Wann immer er das tut, hat es besondere Bedeutung: um das bittere Gefühl abzureagieren, ungerecht behandelt worden zu sein, um dem Sohn der wohlhabenden Eltern zu imponieren. Am Ende nagelt er die Tür zum Kellerraum zu, in dem der erschlagene Vater liegt. Micha hat zuvor die Mutter, dann den Freund verloren -nun ist er ganz allein, schutzlos der Kälte in der Welt ausgesetzt.Eine Kindertragödie von nur historischer Geltung? Mehr ein existentielles Drama vom Verlust der Liebe, der untröstlichen Verzweiflung darüber, auch wenn Michas Verzweiflung ihm in vollem Umfang noch gar nicht bewußt ist, und vom "Passionsweg" in radikale Verlassenheit. Micha betrachtet die tausend Schaumbläschen in der Badewanne oder die tausend Sterne am Nachthimmel und kommt ins Grübeln über die Kleinheit oder Größe denkbarer Welten, die unsichtbar bleiben, also über die Relativität der eigenen Existenz: ein Ausdruck des Zweifels am Status quo und der Neugier nach dem Unbekannten. Es liegt nahe, an die Verwirrungen des Zöglings Törless in Robert Musils gleichnamiger Erzählung zu denken, in der Törless über den Begriff des Unendlichen in tiefes Nachsinnen gerät: "Etwas über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes schien (...) nun plötzlich aufgewacht (... )."Der Blickwinkel des Jungen ist überwiegend der Blickwinkel des Films. Die anschmiegsame und zugleich diskrete Kamera realisiert die Wahrnehmung von Welt aus einer spezifischen Erlebnisperspektive, aus der nicht alles gleich verständlich ist, da Micha - noch Kind, schon nicht mehr Kind - weder über viel Erfahrung noch über ein weitgespanntes Wertungsraster verfügt. Ältere Menschen wirken daher ziemlich bizarr: die eigene unförmig dicke Oma, die von allein kaum vom Klo aufstehen kann, aber durchaus rührend mit ihrem Enkel darüber spricht, wie er das Zimmer ausgestalten solle, das ihm nach ihrem Tod gehören werde. Aber auch die Sicht auf die geistig verwirrte Oma von Kalli verrät nicht viel Einfühlung; ihr wird von dem erbarmungslosen Burschen mit üblen Tricks Geld abgeluchst.Micha erfährt schrittweise, wie unbedeutend er in und für seine Familie ist. Seine wachsende Erkenntnis dieser Wahrheit ist identisch mit dem analytischen Prozeß des Films. Nimmt es wunder, wenn der Junge nach Gelegenheiten für seine kleine Rache sucht - und die vor allem am schwächeren, kleineren Bruder ausübt, der so eilfertig nach der Mama kräht? Oder sogar am Vater, den er auf dem Dach herumturnen läßt, einen rechten Platz für die Antenne zu suchen, weil angeblich das Bild auf dem Fernseher immer noch nicht scharf sei. Becker hat keinen bösen Blick. Er konstatiert nur -vom bewußt eingenommenen Standpunkt eines Ratlosen und Bedrängten aus, der sich kaum anders zu helfen weiß -, daß Gewalt gegen Abhängige und der Entzug von Liebe einen eigentümlichen Kreislauf in Gang setzen, bei dem das Opfer selbst wieder zum Täter wird.Man ahnt, warum die Eltern so handeln, denn langsam setzt sich das Mosaik subtiler Beobachtungen zusammen. Keine vorschnelle Beoder Verurteilung ist möglich. Der Vater, der sich schindet und für reichere Leute abrackert, hat keinerlei Zärtlichkeit, sanfteres Empfinden mehr übrig - weder für sich noch für seine Frau noch für seine Kinder. Zumal in Micha, der die Grammatik und Rechtschreibung der Eltern korrigiert, sieht er eine Art Kuckuckskind heranwachsen, einen, der in andere Klassen überwechseln wird. Und doch kann dieser krampfhaft verhärtete Mann plötzlich weinen, als seine Frau ihn verlassen hat. Micha hört es. Die so verhärmt wirkende Mutter offenbart in der vom Sohn zufällig beobachteten Liebesszene heftige, unerbittliche Leidenschaft, und sie liebkost spielerisch den kleinen Bruder: Überall bleibt Micha ausgesperrt, mit großen Augen und einem Gesicht, die den Kummer und den Schock widerspiegeln. Wolfgang Becker hat mit dem Darsteller Michas, mit Jonas Kipp, so vorzüglich gearbeitet, daß nicht einmal für eine Sekunde spürbar wird, daß es sich um ein "Kunststück" handelt. Im Grunde gilt dies von der außerordentlichen Leistung aller Schauspieler in diesem Film."Kinderspiele" ist meisterhaft komponiert. Jede Szene, beinahe jede Einstellung hat ihre wohlüberlegte Funktion. Die Handlung wird sachte, aber in zwingender Logik vorangetrieben. selbst scheinbare Wiederholungen sind klug bedachte Varianten, es gibt keine Ausschweifungen ins nur Atmosphärische, keine Leerstellen im Gefüge. Die Rede der Figuren ist exakt auf die innere und äußere Situation bezogen. Ein durchgearbeitetes, intelligentes Drehbuch. Ein film noir über ein verlorenes Kind. Er gehört zu den stärksten deutschen Filmen seit langer Zeit. Er hätte den höchsten Bundesfilmpreis erhalten müssen. Wovor hat die Jury Angst gehabt? Vor dem neuen Realismus?
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