Das Zeitalter der Unschuld endet mit dem Vorspann: Die junge Lauren plant auf einer Uni-Party ihre Jungfräulichkeit an ihren Traumtyp zu verschenken, der gerade von einem ausgedehnten Europatrip zurückgekehrt ist. Als der aber kein Interesse zeigt, wendet sie sich erst dem Alkohol und dann einem Filmstudenten zu, mit dem sie sich auf ein Zimmer zurückzieht. Dort verliert sie ihr Bewusstsein, um beim Aufwachen feststellen zu müssen, dass sie Sex mit einem Fremden hat, während der Filmstudent die Szene mit einer DV-Kamera verewigt. Als sich ihr ungewollter Liebhaber dann auch noch übergeben muss, während sie vor ihm kniet, ist ihre Erniedrigung komplett.
So unangenehm die Eingangsszene auch sein mag: „Rules of Attraction“ versucht nicht, mit dem forcierten Ekel-Faktor diverser Teen-Komödien zu konkurrieren. Laurens Horror-Trip wirkt weder komisch noch anstößig, sondern wie ein bizarrer, aber scheinbar harmloser Zwischenfall, den sie selbst ohne große emotionale Regung aus dem Off kommentiert. Ihr Tonfall resignativer Lakonie kennzeichnet den gesamten Film: Regisseur Roger Avary präsentiert diverse Sex- und Drogen-Exzesse, ohne jemals in die artifizielle Aufgeregtheit von Leuten zu verfallen, die die Lust am Kontrollverlust kategorisch verdammen. Vielmehr nähert er sich der Perspektive seiner Protagonisten an, die ihr wildes Leben mit stumpfer Abgeklärtheit registrieren.
Die Party, auf der Lauren ihre Unschuld verliert, steht am Anfang des Films, aber am Ende der Geschichte. Sie ist der Kulminationspunkt, an dem sich die Wege der Hauptfiguren möglicherweise zum letzten Mal kreuzen. Neben Laurens kruder Suche nach Romantik verfolgt Avary in erster Linie die College-Karriere von Sean, der sich in Lauren verliebt hat, seine Gefühle aber weder ihr noch sich selbst gegenüber eingestehen will, und von Paul, der sich gerne als Zyniker gibt, aber insgeheim an seiner unerwiderten Liebe zu Sean leidet. Die drei Protagonisten haben eines gemeinsam: Ihr Studium gilt dem Nachtleben. Die Handlung reduziert sich dementsprechend auf eine Abfolge diverser Feten. Sie auseinander zu halten, fällt umso schwerer, als Avary die Erzählung zeitlich wie räumlich fragmentiert und zwischen den verschiedenen Charakteren sowie den unterschiedlichen Zeit-Ebenen hin und her springt. In „Pulp Fiction“
(fd 31 041), an dessen Drehbuch er beteiligt war, hatte Avary diesen Stil verwendet, um die Relativität von Realität erfahrbar zu machen. In „Rules of Attraction“ setzt er ihn nun ein, um der inneren Leere, die die diversen Exzesse seiner Protagonisten hinterlassen, von Beginn an schmerzhafte Präsenz zu verleihen: Das heitere Treiben zwischen Kokain, Speed, Sex und Alkohol steht unmittelbar neben dem morgendlichen Hang-Over und bekommt den bitteren Beigeschmack der Depression. Den gleichen Effekt verfolgt Avarys Spiel mit der Erzählzeit, die er per Zeitraffer oder mit rückwärts laufendem Film manipuliert. Wenn Lauren, Sean und Paul am Ende feststellen müssen, dass ihr Zynismus unheilbar und ihr emotionaler Panzer kaum noch zu durchdringen ist, dann würden sie die Entscheidungen, die sie an diesen Punkt gebracht haben, gerne revidieren. Aber anders als im Kino, wo die Zeit mit spielerischer Leichtigkeit rückwärts läuft, bleibt ihnen nur die Erkenntnis, dass sie den Preis für ihr Handeln ein Leben lang zahlen werden müssen.
Dennoch zelebriert Avary kein Kino der moralischen Entrüstung. Selbst als eine Kommilitonin von Lauren & Co. aufgrund der rauen Umgangsformen an der Uni Selbstmord begeht, vermeidet er jede konkrete Schuldzuweisung. Ebensowenig versteckt er sich hinter der Fassade der Gleichgültigkeit, die sich seine Figuren antrainiert haben. Avary bezieht vielmehr Stellung, indem er seinen Film mit einem Grundton stillen Bedauerns versieht. In einer zentralen Szene spricht Sean dieses Bedauern sogar offen aus: Er sehnt sich nach einem Zustand der Unschuld und formuliert das Entsetzen über sein Unvermögen, dem sozialen Autismus ein Ende zu bereiten. Trotzdem wagt bis zuletzt keiner der drei unglücklichen Helden einen Aufbruch. Entsprechend schwer fällt es, im bunten Figurenarsenal von „Rules of Attraction“ ein zwingendes Identifikationsangebot zu finden. Man verspürt zwar eine gewisse Trauer, dass die Träume der Protagonisten scheitern. Aber aufgrund ihrer betonten Passivität wehrt man sich bis zuletzt, in den vorgeführten Verhaltensmustern die eigenen wieder zu erkennen. Zugleich stellt sich der eigentümliche Effekt ein, den Filme über die fatalen Folgen exzessiven Party-Lebens immer wieder auslösen: Kaum läuft der Abspann, würde man sich am liebsten selbst kopfüber in die Nacht stürzen und dem Hedonismus frönen, vor dessen Konsequenzen man gerade noch eindringlich gewarnt wurde.