Eine Trabantensiedlung im Londoner Süden: So schäbig wie die Wohnsilos erscheinen nicht nur auf den ersten Blick auch die Menschen. Taxifahrer Phil, der seiner Arbeit ohne Antrieb nachgeht, macht einen mehr als heruntergekommenen Eindruck, die erwachsenen Kinder Rachel und Rory sind unansehnliche Fettklopse. Lediglich Lebensgefährtin Penny, die Mutter der Beiden, hält auf sich. Als Kassiererin im Supermarkt sorgt sie für ein geregeltes Einkommen, schmeißt den Haushalt, setzt der Familie das Essen vor, das diese lustlos in sich hineinstopft, und sagt allen, wo’s lang geht. Ein aufreibender Job, der naturgemäß mit notorischem Nörgeln verbunden ist, wenn Phil die morgendliche Rush Hour verschläft, in der das meiste Geld zu verdienen ist, oder Rory nicht einmal den Weg zum Arbeitsamt schafft, um „Stütze“ zu beantragen. Man schweigt oder schreit sich an, je nach Bedarf; wahrscheinlich existiert die Beziehung zwischen Phil und Penny auch nur noch deshalb, weil sich keine Alternative bietet. Auch die Nachbarn des grauen Mietblocks sind alles andere als eine Zierde. Phils Kollege Ron und seine Frau ergeben sich regelmäßig dem Trunk, während sich ihre Tochter Samantha erfolgreich in der Rolle des Flittchens versucht. Nur Pennys Kollegin Maureen scheint Bodenhaftung behalten zu haben und verdient sich mit Bügeln ein paar Pfund nebenbei. Auch ihre Tochter Donna könnte als Kellnerin auf dem (richtigen) Weg sein, wäre da nicht ihr Freund Jason, ein Rüpel und Rowdy erster Güte, der sie prompt sitzen lässt, als sie schwanger wird.
Nach „Topsy Turvy“
(fd 35 102), seinem Ausflug in den Kostümfilm, der die Geschichte des englischen Komponistenduos Gilbert und Sullivan erzählte, ist Mike Leigh wieder zu seinem ureigenen Thema zurückgekehrt. Doch einmal mehr erzählt er nicht die Geschichte eines Working-class-Heros, sondern die von Working-class-Losern. Da er seine Figuren lange Zeit in der Nähe der Karikatur ansiedelt, ihre Schrullen und Eigenheiten, ihre Verletztheiten und Unzulänglichkeiten fast erbarmungslos überzeichnet, fällt der Zugang zu „All or Nothing“ anfangs ziemlich schwer. Sympathie kann man zunächst für keine seine Figuren aufbringen: Phil stiert illusionslos vor sich hin, Penny keift sich durch den Alltag, Rachel frisst sich ein dickes Fell an, Rory genügt sich in der Rolle der „couch potato“. Selbst Maureen unermüdlicher Bügel-Elan gibt sich als effektiver, wenn auch halbwegs lukrativer Verdrängungsmechanismus zu erkennen. Mit der Zeit aber findet Mike Leigh einen subtilen Dreh, die Personen als Menschen darzustellen, die keineswegs nach der Titel-Devise Alles oder Nichts handeln, sondern sich im Dazwischen eingerichtet haben, weil die Verhältnisse nichts anderes zulassen. Aus den vielen einzelnen Erzählfäden entsteht das Bild einer (Gesellschafts-)Klasse ohne Visionen oder Perspektiven, die alles zu verlieren droht, wenn ihr unmittelbares Umfeld aus den Augen gerät. Dass dies nicht geschieht, verbürgt Mike Leigh, der selbst aus dem Arbeitermilieu stammt und schützend seine Hände über die Charaktere hält: Donna kann ihr Kind bekommen, weil ihre Mutter ihr zur Seite steht; nach einem heftigen Familienstreit, der Pennys eigene Bedürftigkeit zu Tage fördert, und einer Herzattacke von Rory, die die ganze Familie am Krankenbett versammelt und eine Aussprache herbei führt, scheint eine Zukunft zumindest möglich zu sein. Mit Filmen wie „Life is Sweet“
(fd 29 333) oder „Nackt“
(fd 30 631) hat Mike Leigh vielleicht dichtere und kompromisslosere Arbeiten abgeliefert, doch mit „All or Nothing“ meldet er sich – wenn auch mit einigen Mankos – an der britischen Arbeiterfront zurück und würdigt einmal mehr die traurigen Stehaufmännchen eines Systems, das die Mittelschicht beharrlich in den Rückzug zwingt.