Nach einem tragischen Ereignis gerät das Leben eines jungen Elternpaares aus den Fugen. Während die Frau mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, versucht der Mann, den Schein der Normalität zu wahren. Der 21. Dogma-Film nutzt souverän die filmischen Mittel, um das bei aller Liebe von Ängsten und tiefer Unsicherheit geprägte Eheleben zu beschreiben. Kamera und Schnitt vermitteln adäquat die innere Unruhe der Protagonisten, wobei es den herausragenden Hauptdarstellern zu verdanken ist, dass ihre Charaktere auch in den tragikomischsten und extremsten Situationen noch glaubwürdig bleiben. (Preis der Ökumenischen Jury in Mannheim-Heidelberg 2001; O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Kira
- | Dänemark 2001 | 92 Minuten
Regie: Ole Christian Madsen
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Filmdaten
- Originaltitel
- KIRA - EN KAERLIGHEDSHISTORIE | EN KAERLIGHEDSHISTORIE
- Produktionsland
- Dänemark
- Produktionsjahr
- 2001
- Produktionsfirma
- Nimbus Film ApS/Zentropa Entertainment
- Regie
- Ole Christian Madsen
- Buch
- Ole Christian Madsen · Mogens Rukov
- Kamera
- Jørgen Johansson
- Musik
- Oyvind Ougaard · César Berti
- Schnitt
- Søren B. Ebbe
- Darsteller
- Stine Stengade (Kira) · Lars Mikkelsen (Mads) · Sven Wollter (Kiras Vater) · Peacheslatrice Petersen (Kay) · Camilla Bendix (Charlotte)
- Länge
- 92 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Als Kira draußen am Wagenfenster ihren Kindern Grimassen schneidet, glaubt man sich noch einer ganz „normalen“ Frau gegenüber, die ihren Kleinen zuliebe auch einmal den Clown gibt. Doch langsam nehmen die Irritationen überhand. Nur beiläufig deutet Regisseur Ole Christian Madsen an, dass die junge Mutter aus der Psychiatrie nach Hause zurückkehrt. Warum und was geschehen war, bleibt zunächst unklar. In einem kurzen Zwischenschnitt antwortet Kira zwar auf die Frage eines Therapeuten nach dem Grund ihres Zustandes, dass sie sehr, sehr traurig gewesen sei – doch damit wird die Situation nur noch mysteriöser. Immerhin weiß man bereits, dass Kiras Ehemann Mads während ihrer Abwesenheit mit der Schwester seiner Frau eine Affäre hatte, die er nun, da Kira zurückkommt, beenden will. Es muss einiges passiert sein, dass diese Familie so durcheinander geschüttelt wurde. Es knistert förmlich in der Luft. Wie zerschlissen Kiras Nervenkostüm ist, zeigt sich in der Begegnung mit dem Kindermädchen, das ihr Mann angestellt hat. Unverblümt fragt Kira, ob es mit Mads geschlafen habe, und wirft es dann ohne jeden Anhaltspunkt aus dem Haus. Wenig später, als sie mit Mads allein ist, bricht inmitten allergrößter Verunsicherung die körperliche Lust aus. Als würden in diesem sexuellen Taumel sämtliche Probleme und Fragen versinken, fällt das Paar übereinander her, sprachlos und in einer Einvernehmlichkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, in das Ole Christian Madsen den Zuschauer stößt, eine Atmosphäre, die dieses Paar offensichtlich ständig umgibt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Mit einem einzigen Wort, einer einzigen Geste kann eine Situation in unkontrollierbare Emotionen abkippen. Mit aller Macht versucht der Mann die Normalität festzuhalten oder wieder herzustellen, etwa indem er zu Kiras Rückkehr Freunde und Verwandte einlädt, obwohl doch offensichtlich ist, dass Kira jetzt nichts mehr bräuchte als Ruhe. Misstrauisch und unruhig kreisen denn auch ihre Augen umher. In ihrer Anspannung bleibt sie ein Fremdkörper in der Gruppe, selbst als Mads – und das möchte man ihm glauben – auf rührende Weise und voller Liebe über sie spricht. Madsens Inszenierung, gespickt mit tragikomischen Momenten, vermeidet es, für einen der beiden Partner Partei zu ergreifen, was dem Zuschauer, der im Kino an Sympathie- Führung gewöhnt ist, erst recht den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht. Leichtfertige Vorurteile lässt der Film schnell ins Leere laufen. Weder Kiras Ausbruch im Schwimmbad, als sie Kinder durch ihr wüstes, infantiles Auftreten erschreckt und von Bademeistern gebändigt werden muss, noch ihr merkwürdiger Seitensprung mit einem Fremden, von dem sie Mads am nächsten Morgen abholen muss, münden in Parteinahmen, sondern lassen einfach nur Staunen und wecken tiefe Anteilnahme an den beiden so hilflos Liebenden. Erst am Ende des Films, im Ausklang eines großen abendlichen Geschäftsessens, wird in einem leider etwas bemühten) „Showdown“ das tragische Ereignis ansprechbar, das diese Familie aus der Bahn geworfen hat. Mads, der stets von seinem Ideal von Ordnung und Normalität getrieben wird, konnte auf den schweren Schicksalsschlag damals so wenig reagieren wie Kira. Desto verzweifelter ringen sie nun um das Miteinander, das durch Kiras Schuldgefühle und Ängste jedoch immer wieder unterminiert wird. „Kira“, der 21. Film, der nach den Regeln des Dogma-Manifests entstand, ähnelt auf frappierende Weise John Cassavetes’ Meisterwerk „Eine Frau unter Einfluss“ (1974) mit Gena Rowlands in der Hauptrolle. Auch dort belasten die psychischen Probleme der Frau das Familienleben, während der Mann (gespielt von Peter Falk) ohnmächtig daneben steht. In beiden Filmen wird das Empfinden der Frau nicht durch einfache Erklärungen (weg-) rationalisiert oder dramaturgisch geglättet, sondern spiegelt sich in der jeweiligen ästhetischen Umsetzung. Unstete Großaufnahmen sind vorherrschend, die Kamera ist ständig in Bewegung, sie scheint spontan zu reagieren, Schnitte mitten in Bewegungen hinein sind ebenso zu finden wie das plötzliche Abreißen einer Szene. Alles ist unvorhersehbar, das Leben selbst scheint – jeder Dramaturgie zum Trotz – Regie zu führen. Ähnlich wie Cassavetes ist Madsen ein Filmemacher, für den das Spiel der Darsteller oberste Priorität besitzt. Anders als mancher Dogma-Apologet stellt er nicht die technischen Aspekte des Filmemachens in den Vordergrund (auch nicht den paradoxerweise zur Schau getragenen Verzicht derselben), und gewinnt gerade dadurch eine Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, die beeindruckt. Bei aller Ruhelosigkeit gelingen Kameramann Jørgen Johansson großartige Einstellungen, die beweisen, dass Könnerschaft im Umgang mit der Technik sowie ästhetisches Empfinden der bei Dogma-Produktionen heiligen Spontanität nicht im Weg stehen müssen – ganz im Gegenteil. Trotzdem lebt dieser Film ganz vom ungeheuer intensiven, dennoch nie forciert wirkenden Spiel der beiden Hauptdarsteller Stine Stengade und Lars Mikkelsen, die viel mehr über ihre Gesten und Blicke vermitteln als es Worte sagen könnten.
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