- | Frankreich 2000 | 120 Minuten

Regie: André Téchiné

Drei verschiedenen Kulturen angehörende Menschen versuchen, innerhalb von drei Tagen ihr Leben zu ordnen und ihm die entscheidende Wende zu geben. Der in der nordafrikanischen Stadt Tanger angesiedelte Film bezieht seinen Schauplatz metaphorisch in die Handlung ein und spiegelt in ihm menschliche Beziehungen, die von tiefen Gräben durchfurcht sind. Ein sehr persönlicher Film, zu lesen als politisch und künstlerisch kompromissloses Statement, das an Zärtlichkeit und Leichtigkeit kaum zu überbieten ist. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LOIN
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Centre national de la Cinématographie/Ciné B/La Sofica Sofinergie 5/Le Studio Canal+/TPS Cinéma/UGC Images/Vertigo
Regie
André Téchiné
Buch
André Téchiné · Faouzi Bensaïdi
Kamera
Germain Desmoulins
Musik
Juliette Garrigues
Schnitt
Hervé de Luze
Darsteller
Stéphane Rideau (Serge) · Lubna Azabal (Sarah) · Mohamed Hamaidi (Said) · Jack Taylor (James) · Yasmina Reza (Emily)
Länge
120 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Drei Menschen, drei Tage, drei Kulturen und eine Stadt – das ist die Grundkonstellation. Das (zunächst) Künstliche und Starre dieser Struktur wird zusätzlich betont, indem die zeitliche Dreiteilung des Films durch eingeblendete Unterzeilen vorgenommen wird; und dadurch, dass die Vornahmen der drei Hauptfiguren mit einem S beginnen: Serge, Sarah, Said. Schauplatz ist Tanger, Umschlaghafen nicht nur für Waren zwischen Erster und Dritter Welt, sondern auch für die Kulturen der Maghrebstaaten, Südeuropas, Schwarzafrikas und für ganz individuelle Existenzen; den illegalen Nigerianern, die hierher kommen und Arbeit suchen, ist schon dieser Ort das Gelobte Land, doch am Rande der schwerbewachten Hafenanlage lauern die Einheimischen zu Dutzenden auf ihre Chance, sich auf eines der Schiffe zu schleichen, die nach Europa fahren. Von dort kommen die anderen, die das Fremde, Exotische, vermeintlich Ursprüngliche suchen. Tanger ist Brücke und Barriere zugleich. Weggehen oder bleiben, das ist auch für die Hauptfiguren die entscheidende Frage: Sarah, die Jüdin, leitet nach dem Tod ihrer Mutter deren Hotel. Sie schwankt zwischen der Chance, nach Kanada überzusiedeln, wo sie im Haus ihres Bruders Wohlstand, aber auch neue Unfreiheit erwarten, oder zu bleiben. Sarah liebt Serge, den französischen Lastwagenfahrer, der immer wieder sporadisch auftaucht, sie ebenfalls liebt, sich aber in seiner störrisch-spröden Art nicht für oder gegen sie entscheiden kann. Nun will sie Schluss machen. Dann ist da noch der junge Marokkaner Said, Serges Kumpel, der auch mit Sarah befreundet ist und in ihrem Hotel arbeitet. Er ist arm, hat außer seinem Rennrad und ein bisschen Gespartem kein Eigentum; und er ist reich, denn er kennt Tanger in- und auswendig, hat „Beziehungen“ aller Art. Said hat Träume, will alles auf eine Karte setzen und einen Neuanfang in Frankreich wagen. Doch dazu braucht er Serges Hilfe. Mit bewundernswerter Leichtigkeit und Eleganz bringt Téchiné diese Konstruktion in Bewegung, umkreist seine Figuren beinahe zärtlich und doch immer distanziert genug, um falsche Gefühligkeit zu vermeiden. Dabei kommt ihm entgegen, dass er den Film mit einer DV-Kamera gedreht hat. Was er mit dem digitalen Videostil macht, ist freilich fern von aller Dogma-Ästhetik: kein Bild-Gewackel, keine inszenierte oder tatsächliche Spontaneität schüren das Melodram. Vielmehr strahlt „Weit weg“ eine nahezu dokumentarische Objektivität aus, die ganz auf den Moment und die Geschichte konzentriert bleibt, dabei Parteinahmen ausweicht, klar, direkt und schnörkellos erzählt. So wichtig wie die Hauptfiguren sind die Nebencharaktere, vor allem die Frauen: Emily, Sarahs reiche Schwägerin, ist zu Besuch, um den 30. Trauertag für die Schwiegermutter zu begehen. Man erfährt, dass sie vor Jahren ihren Sohn verlor, dass sie sich gefangen fühlt in der Ehe mit einem kalten Mann. Nur beim Schreiben von E-Mails hat sie das Gefühl von Freiheit. Auch bei der Marokkanerin Farida, geht das Lebenskonzept nicht mehr auf. Die Augenärztin ist schwanger, aber vom Kindsvater hat sie sich verabschiedet. Daneben trifft man auf den jungen François, der auf Abenteuer mit noch jüngeren Marokkanern aus ist, und ziellos in den Tag hinein lebt; und auf James, den alten Lebemann, der schon seit 30 Jahren dort lebt und Stück für Stück sein Altstadthaus verkauft, um über die Runden zu kommen – eine Art Paul-Bowles-Verschnitt, dem der Regisseur Worte des Schriftstellers in den Mund gelegt hat. Die Transit-Stadt Tanger erlaubt all diese kleinen Fluchten, ist ein Freiraum und wird selbst zum Hauptdarsteller: ein Ort der Verschmelzung, an dem der Übergang das dominierende Lebensgefühl darstellt. Wenn „Weit weg“ in vier Sprachen spricht, diverse Kulturen, Religionen, politische Ansichten und Lebenskonzepte mischt, dann spiegelt dies die Vielfalt des Schauplatzes. Mit diesem Film leitet Téchiné eine neue Phase seines Schaffens ein: Einerseits knüpft er an frühere Geschichten an, die von persönlicher Initiation und „entscheidenden Momenten“ handelten; natürlich geht es auch hier – nicht weniger intensiv, aber desillusionierter als in „Meine liebste Jahreszeit“ (fd 30 652) und „Wilde Herzen“ (fd 31 180) – um Liebe, um das, was „richtiges Leben“ heißt. Andererseits aber greift er weit über sie hinaus. Anhand einer präzisen, sehr konkreten Konstellation umreißt Téchinés stille Passionsgeschichte die Lebensproblematik der Globalisierung, beschreibt Betrug, Ausbeutung, Verzweiflung. „Freiheit zerstört alles“, sagt James, der es am ehesten wissen muss. „Er liebt Marokko, aber nicht die Marokkaner“, wird behauptet, worauf er antwortet: „Es geht nicht nur um Marokko, es geht um die Welt.“ Ein Wortwechsel in aller Freundschaft und allem Ernst, bei dem man Téchiné grundsätzliche Absicht unterstellen darf. „Muss man sein Leben lang dasselbe machen?“, fragt Serge vor allem sich selbst, und auch hier spürt man sein Wissen darum, dass auf der anderen Seite des Meeres mit der vielleicht besseren Zukunft auch das Ende der Freiheit lauert. So gelingt Téchiné nicht allein ein Film über den Übergang als Lebensgefühl, über Schleppen, Schleusen und Schmuggeln, über Liebe in Zeiten der Migration; ebenso ist „Weit weg“ ein melancholisches Entfremdungsszenario über eine Welt, in der menschliche Beziehungen durchfurcht sind von den tiefen Gräben, die Gesetze und Kulturen zwischen ihnen ziehen wollen, einer Welt in der dem falschen Leben kein wahres Dasein zumindest als Hoffnung vor Augen steht, sondern nur dem Anderen ein Anderes. Erst im letzten Viertel gestattet sich der Film so etwas wie eine Utopie. Da setzt Téchiné (wie in „Wilde Herzen“) seine Figuren auf eine Wiese – die allerdings direkt bei einem Friedhof gelegen ist. Mehr und mehr treten die Frauen in den Vordergrund, und schließlich wird auch noch Faridas Kind geboren. So schließt sich der Kreis, ein paradiesisches Szenario, das noch durch den direkten Verweis auf Renoirs „Der Strom“ (fd 1874) gestützt wird. Dies ist dann kein Paradies, aus dem die Menschen wieder vertrieben werden, im Gegenteil verjagt Sarah eine Schlange, die sich ihr und Serge nähert. Mit „Weit weg“ hat Téchiné einen seiner persönlichsten Filme gedreht. Kein „reifes Alterswerk“, sofern dies Abgeklärtheit und Gelassenheit bedeutet, sondern ein politisch wie künstlerisch kompromissloses Statement, dabei zärtlich und leicht.
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