Erinnerungen an die Kindheit haben in den Romanen von Stephen King stets eine wichtige Rolle gespielt. Wer in King nur den Autor von Blut- und Horrorgeschichten sieht, hat seine besseren Bücher nicht gelesen. Von „The Body“, der Novelle, die zu dem Film „Stand by Me“
(fd 26 001) wurde, über „Stephen Kings Es“
(fd 28 876) und „Der Musterschüler“
(fd 33 761), die beide mehr schlecht als recht verfilmt wurden, bis zu seiner Story-Sammlung „Hearts in Atlantis“ gibt es immer wieder diese Geschichten, in denen sich die Frustrationen des Erwachsenen mit der naiven Neugier des Heranwachsenden verbinden. Keine überwältigende Literatur, aber besser als ihr Ruf. Der Film „Hearts in Atlantis“ beschränkt sich auf zwei der insgesamt fünf Erzählungen in Kings 1999 erschienenem Buch. Das grenzt von vornherein die Perspektive ein. Was auf dem Papier als Erinnerung an „jene Jahre zwischen der Ermordung von John Kennedy in Dallas und der Ermordung von John Lennon in New York City“ angelegt ist, beschränkt sich im Kino auf eine nostalgische Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens. Kein Verweis mehr auf Vietnam, auf die gesellschaftliche Umbruchsituation der 60er-Jahre. William Goldmans Bearbeitung des Buchs eliminiert alles Politische und bevorzugt stattdessen ein antiseptisches Konzentrat, in dem Stephen King einmal mehr zum Autor des Mysteriösen reduziert wird.
Die Story, die übrig bleibt, handelt von Bobby, einem elfjährigen Jungen, der zu Anfang der 60er-Jahre seine ersten Schritte in die Erwachsenenwelt tut. Der Vater ist früh verstorben und die Mutter verbittert über die ärmlichen Lebensverhältnisse. Statt des ersehnten Fahrrads gibt es zum Geburtstag eine Ausleihkarte für die Bibliothek (aber selbst hier bleibt der Film die Exploration neuer Welten schuldig, die im Buch mit großer Sorgfalt ausgebreitet wird). Bobby hat zwei beste Freunde; zu ihnen gehört Carol, die er sein Leben lang nicht vergessen wird. Da zieht eines Tages in die Wohnung über ihm ein alter Mann ein, der sogleich das Misstrauen der Mutter auf sich lenkt, weil er seine wenigen Habseligkeiten in Einkaufstüten herumschleppt. Bobby stört das nicht. Für ihn ist dieser Ted Brautigan die Inkarnation des Geheimnisvollen, dem Kinder seines Alters tagtäglich auf der Spur sind. Der Verdacht des Ungewöhnlichen wird bald gesteigert, als Bobby von Brautigan den seltsamen Auftrag erhält, nach finster dreinschauenden Männern in großen, teuren Autos Ausschau zu halten, und als der undurchsichtige Mieter merkwürdige hellseherische Fähigkeiten an den Tag legt.
Was von Kings Buch Eingang in den Film gefunden hat, ist vor allem die Aura jugendlichen Erwachens mit all ihren Prädispositionen fürs Geheimnisvolle, für Entdeckerfreude und unbekümmerte Abenteuerlust. Wer darauf wartet, dass – wie in „Misery“
(fd 28 858) und „Dolores“
(fd 31 666) – irgendwann etwas Dramatisches passiert, der sieht sich getäuscht. Hier geht es nicht um menschliche Monster, sondern um die menschliche Natur. Dass wenigstens dieser Aspekt gerettet wurde, verdankt der Film seinem Regisseur. Der Australier Scott Hicks besitzt ähnlich wie King eine Affinität für Jugenderinnerungen. Wer Hicks „Schnee, der auf Zedern fällt“
(fd 34 160) gesehen hat, findet hier dieselbe Sorgfalt in der Erzähltechnik, dasselbe Geschick im Umgang mit Kinderdarstellern und dieselbe poetische Eleganz des Stils wieder. Einem Regisseur von geringerer Begabung wäre die Story, die aus Kings 500-Seiten-Buch übrig geblieben ist, vermutlich zu einer pittoresken Kollektion von Norman-Rockwell-Stillleben missraten. Nicht so bei Hicks. Er hält die ihrer zeitgeschichtlichen Widerhaken beraubte Geschichte auf dem Niveau einer melancholisch-nostalgischen Reflexion, deren Erkenntnisse zwar nicht die Welt aus den Angeln heben, aber eine Vielzahl besinnlicher Momente gestatten, die gemeinhin in der äußerlichen Betriebsamkeit aktueller Filme unterzugehen pflegen. Hicks versteht seinen Schauspielern Raum zur Entfaltung zu geben – und großartige Schauspieler hat er bis die kleinsten Rollen. Spätestens seit „Was vom Tage übrig blieb“
(fd 30 687) weiß man, dass Anthony Hopkins am besten ist, wenn man ihm am wenigsten zu tun gibt. Aus der simplen Beschreibung eines Football-Spiels macht er ein bewegendes Ereignis und aus den nichts sagend repetitiven Antworten des verschlossenen Mr. Brautigan die Studie eines geheimnisumwitterten Menschenfreundes. „Hearts in Atlantis“ hat viel an Substanz verloren und an Atmosphäre gewonnen. Hicks und sein (kurz nach den Dreharbeiten verstorbener) Kameramann Piotr Sobocinski entfalten eine Welt, in der die bunte Beweglichkeit von Riesenrädern und in der Abendsonne gleißende Eisenbahnschienen Geschichten ganz besonderer Natur erzählen. Es ist der poetische Atem des Films, der über viele seiner Mängel hinwegsehen lässt.